«Wie Stummfilm, nur umgekehrt» – das Hörspiel wird 100

VonC. Peters

23. Oktober 2024
Ein Aufnahmeplatz im «Hör.Spiel Museum» im Palais Bellevue in Kassel. Foto: Anja Köhne/HÖR.SPIEL Museum der Stiftung Brückner-Kühner/dpaEin Aufnahmeplatz im «Hör.Spiel Museum» im Palais Bellevue in Kassel. Foto: Anja Köhne/HÖR.SPIEL Museum der Stiftung Brückner-Kühner/dpa

Berlin/Frankfurt (dpa) – Das deutschsprachige Hörspiel ist im Chaos geboren: Immer aufs Neue versucht der Ansager am 24. Oktober des Jahres 1924, das Programm des Senders „Frankfurt am Main auf Welle 467“ zu moderieren. Doch das ist ihm in der Radioproduktion «Zauberei auf dem Sender» nicht vergönnt: Erst drängelt sich die Märchentante ans Mikro, die den Kindern auch mal abends vorlesen will. Dann versagen alle Schalter. Plötzlich legen Orchesterinstrumente ohne Musiker von allein los. Schließlich taucht ein Zauberer auf, der sich mit diesen ganzen Streichen an dem Sender rächt, bei dem er nicht auftreten durfte. 

All das wird an diesem Abend live on air übertragen. «Zauberei auf dem Sender» war vor 100 Jahren Deutschlands erstes Hörspiel. In wohl keinem anderen Land der Welt ist diese Kunstform so populär.

«Was Hans Flesch gemacht hat, war buchstäblich visionär. Er hat alle Elemente eingesetzt, die auch heute noch im Hörspiel vorkommen», erläutert Marcus Gammel. Er ist bei Deutschlandfunk Kultur der Abteilungsleiter für Hörspiel, Feature und Klangkunst: «Ich glaube, die große Konstante im Hörspiel ist die Stimme, das Sprechen, das Singen. Aber auch Geräusch und Musik waren schon in diesem ersten Hörspiel angelegt.» Als Tonspur ist die Sendung nicht erhalten, es gibt nur das Manuskript.

Niemand hat das erste Hörspiel aufgezeichnet

«Die Aufzeichnung war zwar technisch rudimentär möglich, aber noch nicht in dem Maße, wie es für eine Produktion nötig wäre», sagt Gammel. «Außerdem verstand sich Rundfunk grundsätzlich als Live-Medium.» Eine akustische Bühne: «Das waren ja quasi Theater-Adaptionen, die oft noch in Kostüm und Maske aufgeführt wurden», erklärt der Autor und Hörspielkritiker Jochen Meißner. Der Schriftsteller Urs Widmer brachte diesen Klangeffekt einmal so auf den Punkt: «Hörspiel ist wie Stummfilm – nur umgekehrt.»

Die vermutlich bekanntesten deutschen Hörspiele entstanden in der frühen Nachkriegszeit und sind mit Namen wie Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Ilse Aichinger und Günter Eich verbunden. Heute sprechen Fachleute wie Meißner vom sogenannten Alten Hörspiel.

«Beispielhaft für das Alte Hörspiel ist „Träume“ von Günter Eich aus dem Jahr 1951, was auch eine weitere Sternstunde des Hörspiels war», so Meißner. «In den 1950er Jahren spielten sich Hörspiele auf der sogenannten „inneren Bühne“ ab, auf der es eher um Innerlichkeit ging.» Bis heute ist «Träume» ein verstörendes Werk, das auf abstrakter Ebene Erinnerungen an den Holocaust weckt, wenn es etwa eine schreckliche Fahrt im Güterzug schildert. 

In der Nachkriegszeit entstand in Westdeutschland eine Hörspiellandschaft, die ihresgleichen sucht. «Ich glaube, da hat die föderale Struktur in Deutschland eine große Rolle gespielt und eben die Landesrundfunkanstalten, die nach dem Krieg aus guten Gründen stark aufgebaut wurden», sagt Gammel. «Dadurch hat man zehn Anbieter über das ganze Land verteilt, die alle Hörspiel produzieren in unterschiedlichsten Farben und Formen.»

Das Neue Hörspiel suchte am Ende der 60er Jahre neue Wege. «Da war das Stück „Fünf Mann Menschen“ von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker ausschlaggebend», so Meißner. «Ein 15-Minuten-Hörspiel, chorisch und stereophon – denn die Stereophonie gab es ja inzwischen auch, die neue Erzählweisen und Ästhetiken ermöglichte.» 

Die Generation der «Kassettenkinder»

Während neue Technik bis hin zum Sampling der literarischen Kunstform neue Möglichkeiten eröffnete, begann in den 70er Jahren außerhalb des Kulturbetriebs leise eine Revolution. Kommerzielle Hörspielstudios wie Europa, Kiosk und Maritim richteten sich mit den drei ???, TKKG oder Bibi Blocksberg an junge Hörer. Ohne zu ahnen, dass sie die ab 1970 geborenen Generationen lange begleiten würden. Viele Käufer sind heute Erwachsene.

Die Chefin des Labels Europa, Heikedine Körting, erinnert sich: «Geradezu ideal war der Zeitpunkt für den Start der „Drei ???“-Hörspiele vor 45 Jahren im Herbst 1979.» Im Gegensatz zu Kindern in den USA hätten die deutschen Kids damals noch keinen Fernseher im Kinderzimmer gehabt und durften auch nur wenig TV gucken. Europa brachte Kassetten zum Kampfpreis von fünf D-Mark auf den Markt und nahm die Walkman-Mode mit. «Die Kassetten wurden rauf und runter gehört, nicht nur einmal oder zweimal, nein, immer wieder und wieder. Und so haben sich die Geschichten fest eingeprägt. Die Generation dieser „Kassettenkinder“ liebt Hörspiele wie wohl keine andere vor ihr.» Ein deutsches Phänomen.

Die Hörer sind heute auf Spotify

Auch wenn öffentlich-rechtliche Hörspielmacher oft eine scharfe Trennlinie zwischen diesen Jugendklassikern und dem klassischen Funkstück ziehen, treffen sich beide Welten heute als Nachbarn bei Spotify und Co. «Es sind nicht nur die Produktionsmittel demokratisiert worden, sondern auch die Vertriebswege», schildert Meißner die Entwicklung. «Es gibt jetzt die Streamingdienste, die Plattformen – und auch die ARD bemüht sich ja jetzt, da Fuß zu fassen, und zwar eher mit Formaten, die, wie sie meinen, da angemessen wären. Das sind meistens serielle Formate.» Manche der neuen ARD-Formate docken sogar ganz bewusst bei der Kassettenromantik an – die Mysteryreihe «Mia Insomnia» (BR) zum Beispiel.

Was bringt die Zukunft? Sicher ist: Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sparen und daher mehr auf Effizienz und digitale Ausspielwege achten. Meißner betrachtet die Entwicklung mit einer gewissen Sorge. «Ich fürchte, dass das eher so eine Entwicklung ist wie beim Fernsehen, in der die anspruchsvollen Sachen in der Nische des „Kleinen Fernsehspiels“ abgeschoben werden. Und das ist wirklich schade. Denn wir haben ja in Deutschland durch den Föderalismus nach dem Krieg eine wirklich beispielgebende Hörspiel-Tradition gehabt.» Es ist ein 100. Geburtstag in unruhigen Zeiten.

Quellen: Mit Material der dpa.

Advertisement