Wie eine Familie den Hamas-Angriff überlebte

VonC. Peters

12. Oktober 2023

Sderot/Bonn (KNA)Tal Shamir bezeichnete es einmal als eine seiner Lebensaufgaben, sich für ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern einzusetzen. So sah er es vor dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am vergangenen Samstag. Seitdem zähle er tote und entführte Freunde und müsse mit dem umgehen, was er und seine Familie durchgemacht hätten, sagt er mit ruhiger, aber auch deutlich angespannter Stimme in einem Telefonat nach Deutschland. „Es ist schrecklich. Ich kann die Palästinenser jetzt nicht als meine Partner sehen.“

Der 51-Jährige lebt in Ohad – nicht besonders weit weg von der Stadt Sderot, die ebenso wie Ohad nah am Gazastreifen liegt. Seit der Vertreibung der Fatah aus dem Gazastreifen 2007 stellt die Hamas dort allein die Regierung. Die Region entlang des dicht besiedelten Palästinensischen Gebiets und die Menschen dort sind schwer gezeichnet vom jüngsten Raketenbeschuss, Attacken der Hamas in Straßen und auf Wohnhäuser sowie von Entführungen.

Wenige Sekunden für die Flucht in den Schutzraum

„Wir wachten am Samstag gegen 6.30 Uhr von Raketen auf. Ich habe niemals vorher so etwas gehört“, sagt Shamir. Um in den Schutzraum zu rennen, seien 15 Sekunden geblieben. „Wir schlossen uns ein.“ Auch habe er Schüsse gehört. Sein älterer Sohn habe die Nacht in einem anderen Kibbutz verbracht, auch dieser nah am Gazastreifen. Er habe seinen Vater angerufen und geflüstert, dass er Arabisch sprechende Personen höre.

Es sei fast Sonntagmorgen gewesen, als Soldaten die Kontrolle über seinen Wohnort übernommen hätten, so Shamir. Seine Familie habe sich entschieden, erst einmal woanders hinzugehen, und sei einer Einladung nach Mashabei Sade südlich von Beer Scheva gefolgt. Es fühle sich an wie eine „große, warme Umarmung“. Von den Menschen, betont Shamir, nicht von der Regierung: „Sie ist mehr mit Politik beschäftigt als damit, uns zu helfen. Ich danke allen, die uns helfen.“

Tal Shamir jetzt als Reservist im Einsatz

Jetzt ist der Sozialpsychologe einer von rund 360.000 Reservisten, die das Land im Kampf gegen die Hamas mobilisiert hat, wie Medien berichteten. Er arbeitet für das Home Front Command. Es wurde 1992 mit dem Ziel gegründet, sich um den Schutz von Zivilisten und deren Erholung und psychologische Betreuung beispielsweise auch nach Terrorattacken zu unterstützen.

In Sderot etwa gibt es Einrichtungen zur psychologischen Begleitung von Menschen. Hier waren die Bewohner in der Vergangenheit immer wieder Raketenbeschuss ausgesetzt. Da ihnen nur wenige Sekunden bleiben, um nach einem Alarm Schutz zu suchen, befinden sich neben Bushaltestellen und auch anderswo Unterstände, vielfach bunt bemalt oder mit Graffiti bedeckt. Und da ist ein Spielplatz mit einer großen Betonschlange, in deren hohles Innere Kinder nach einem Alarm rasch hineinkriechen können.

Seit Samstag jedoch kursieren ganz andere Bilder aus der 30.000-Einwohner-Stadt: abgedeckte Leichen an Straßen; Ruinen von Gebäuden; Bewaffnete; Menschen in Angst und Trauer. Es werde sehr lange dauern, bis man sich insgesamt wieder sicher fühlen könne, ist Shamir überzeugt. Für die Angreifer hat er kaum Worte – und sagt dann mit gepresster Stimme: „barbarisch“.

Seine arabisch-israelischen Freunde hätten ihm sofort WhatsApp-Nachrichten geschickt, um sich nach dem Befinden der Familie zu erkundigen und Hilfe anzubieten. „Das ist herzerwärmend.“ Man dürfe nicht vergessen, dass die Terroristen auch Araber getötet hätten – ohne, dass es sie gekümmert hätte. „Was passiert ist, war nicht rational und hatte nichts mit Religion zu tun“, so Shamir. Hamas handele wie die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) und wolle das palästinensische Volk nicht in eine Zukunft führen, sondern in einen selbstmörderischen Dschihad.

Trauer und Wut säßen nun tief bei den Menschen, sagt Shamir. Er verweist auf die politische Krise in Israel und damit verbundene gesellschaftliche Konflikte. Nun sei es so: „Dieser Krieg vereinigt uns alle.“ Nach den Hamas-Angriffen seien das Land und die Menschen auf der einen Seite schwächer geworden – aber auf der anderen Seite auch stärker.

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