Warum viele Menschen das Streben nach Glück überbewerten

VonC. Peters

28. September 2023

Bonn (KNA)Das Glück wohnt im Norden Europas: Auf der Weltrangliste des Glücks stand im Frühjahr erneut Finnland an der Spitze, zum sechsten Mal in Folge. Im deutschen „Glücksatlas“ landeten schon mehrmals Schleswig-Holstein und Hamburg ganz vorn. Kriterien für diese vielbeachteten Berichte sind einerseits wirtschaftliche Daten, aber auch Gesundheit, soziale Beziehungen oder Möglichkeiten einer freien Lebensgestaltung.

Auf nach Finnland also – oder zumindest nach Hamburg? Fachleute sehen das allgegenwärtige Sterben nach Glück skeptisch. „Was ist das für ein Glück, dem jeder nachjagen soll?“, fragte die amerikanische Psychoanalytikerin Nuar Alsadir kürzlich im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“. Viele Menschen wollten „das perfekte Leben und den perfekten Erfolg“. In den USA ähnele das Glück inzwischen einer Ware, die man zu erhalten hoffe, wenn man bestimmte Dinge tue. Sie halte es indes für viel wichtiger, „tief zu fühlen, als glücklich so sein“, so Alsadir.

Glücksgefühle kommen unerwartet

Glücksgefühle erlebt man oft dann, wenn man sie am wenigsten erwartet, und umgekehrt wird mitunter enttäuscht, wer Momente der Freude erzwingen will. Weder die Weltreligionen noch die Philosophie legten einen besonderen Fokus auf das Streben nach Glück, schreibt der Feuilletonist Oliver Burkeman in seinem soeben auf Deutsch veröffentlichten Buch „Das Glück ist mit den Realisten“. Und er geht noch einen Schritt weiter: Das ständige Bemühen, negativ besetzte Gefühle wie Sorge, Traurigkeit oder Scham zu vermeiden, führe erst Recht zu Unsicherheit.

„Auch traurige und düstere Momente gehören zum Leben“, betont die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme. Hilfreich sei, das Leben in einer Balance zu betrachten. „Zudem wird das, was man als schön und glücksbringend erlebt, durch diesen Kontrast sogar oft verstärkt. Wenn alles gut läuft, gewöhnen wir uns daran“. Fachleute sprechen von „hedonistischer Adaption“ – die sogar ins Gegenteil kippen kann, wenn die Schwächen des zuvor idealisierten Partners oder die Macken der vermeintlichen Traumwohnung plötzlich übergroß erscheinen.

Bewusstsein für Sterblichkeit

Aber nach der Corona-Pandemie, in Zeiten eines neuen Krieges auf europäischem Boden und einer sich zuspitzenden Klimakrise – ist es da nicht verständlich, dass man sich selbst Gutes tun will? Burkeman weist darauf hin, dass Menschen immer schon glaubten, in Zeiten einzigartiger Unsicherheit zu leben. Und genau darin, in der ultimativen Unsicherheit, könne eine Chance liegen: Wer sich der eigenen Sterblichkeit bewusst sei, gewinne einen klareren Blick darauf, was wirklich wichtig sei, womit man mehr oder weniger Zeit verbringen wolle.

Allerdings, schreibt der Autor: „Das Problem ist, dass wir uns angewöhnt haben, beim Nachdenken über Glück Positivität und die Möglichkeit des ‚Tuns‘ chronisch überzubewerten, während wir Negativität und die Möglichkeiten des ‚Lassens‘ chronisch unterbewerten.“ Wer Inspiration für ein Gegensteuern sucht, dem bietet Burkeman zahlreiche Anhaltspunkte von den antiken Stoikern über Achtsamkeitstraining bis hin zu einer schlichten, konkreten Frage gegen Grübeleien: „Hast du jetzt, in diesem Moment, ein Problem?“

Yoga und Meditation

So gehe es bei Yoga und Meditation, die seit Jahren boomen, eben nicht darum, schnell wieder aufzutanken oder die Kontrolle zu behalten. Analytikerin Alsadir rät dazu, auf den eigenen Körper zu hören und wieder intuitiver zu entscheiden – auch bei alltäglichen Dingen. So habe sie selbst ihre Tochter zur Eile auf dem Weg zum Spielplatz angetrieben – bis sie bemerkt habe, „dass es ihr Spaß machte, den Kinderwagen zum Spielplatz zu schieben, während ich den Spielplatz als Aktivität verstand, zu der wir gelangen müssen.“

Glück und Verletzlichkeit seien oft „ein und dasselbe“, lautet das Fazit von Burkeman. Böhme sieht darüber hinaus „eine moralische Verantwortung“, sich betreffen zu lassen von den „Grausamkeiten in der großen Welt“. Es sei durchaus möglich, in der eigenen kleinen Welt zugleich offen zu bleiben für schöne Momente und Erfahrungen: „Das schafft eine Spannung – und die muss man lernen auszuhalten.“

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