Warum verzichtet Rabat auf internationale Erdbebenhilfe?

VonC. Peters

12. September 2023

Rabat/Madrid (KNA)“Wir sind am Ende unserer Kräfte“, sagt Yasin Numghara. Das Erdbeben in Marokko am Freitag hat sein Bergdorf Mulai Brahim in der Nähe des Epizentrums in Schutt und Asche gelegt. Seit Tagen suchen Yasin und die anderen Dorfbewohner nach Überlebenden. „Die Zeit läuft uns weg. Doch wir haben nur Hacken, Schaufeln und unsere bloßen Hände, um nach Verschütteten zu suchen“, erzählt Yasin der spanischen Zeitung „El Mundo“.

Der junge Marokkaner ist verzweifelt. Es fehle an allem – Hilfskräften, Decken, Wasser, Essen, Medizin. Und er ist sauer, auf seine Regierung und König Mohammed VI. „Vom Staat haben wir immer noch keine Hilfe erhalten. Nicht mal um nach Überlebenden zu suchen.“ Dutzende schwer zugängliche Ortschaften sind nach dem Beben mit einer Stärke von 7,2 praktisch sich selbst überlassen. Und je mehr Zeit verstreicht, desto mehr verschüttete Menschen kommen um.

Aus diesen vier Ländern akzeptiert die Regierung Hilfen

Mehr als 60 Länder haben Hilfe angeboten. Das Unerklärliche: Rabat akzeptierte bislang nur von den vier „befreundeten“ Ländern Spanien, Großbritannien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten Unterstützung. Selbst die Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW), die bereits abflugbereit am Flughafen Köln/Bonn warteten, wurden wieder nach Hause geschickt, weil Marokko kein Hilfsgesuch an die Bundesregierung in Berlin stellt. Auch die Angebote Frankreichs, Katastropheneinsatzkräfte zu schicken, blieben unbeantwortet. Deshalb unterstützt Paris jetzt mit fünf Millionen Euro Hilfsorganisationen vor Ort.

Man erwarte einen Mangel an Koordination ausländischer Hilfstrupps. Daher halte man eine massive ausländische Hilfe derzeit nicht für sinnvoll und sogar für kontraproduktiv, ließ der König über seinen Innenminister verlauten. Dabei sind die nationalen Rettungskräfte mit der Suche nach Überlebenden völlig überfordert.

Marokkos Anspruch auf Westsahara

Ein anderer Grund hinter der selektiven Auswahl an Länderhilfen sei allerdings zum Leid der Bevölkerung ein geopolitischer, meint Haizam Amirah Fernandez, Politikexperte für die Arabische Welt am spanischen Institut Elcano. „Vor allem von Ländern, die nicht Marokkos Anspruch auf die Westsahara anerkennen, will das Land anscheinend keine Hilfe in Anspruch nehmen“, erklärte der Politik-Experte am Dienstag im spanischen Nationalradio RNE.

Auch aus dem benachbarten Algerien, das die Befreiungsfront Polisario in der Westsahara unterstützt, lehnte man Rettungstrupps ab. Nachdem die Kolonialmacht Spanien die rohstoffreiche Region im Süden Marokkos 1975 verließ, besetzte Marokko das Gebiet. Die Vereinten Nationen verurteilen seither die Einnahme der Region und fordern in der Westsahara ein Unabhängigkeitsreferendum.

Spannungen zwischen Paris und Rabat

Während Frankreich weiter die nach internationalem Recht umstrittene Einnahme der Westsahara durch Marokko verurteilt und sich politisch dem Erzfeind Algerien annähert, werden die Spannungen zwischen Paris und Rabat immer größer. London dagegen steht seit 2021 den marokkanischen Autonomieplänen für die Westsahara, die der Region zumindest eine begrenzte Autonomie versprechen, nicht mehr entgegen.

Obwohl auch Spanien noch bis vor zwei Jahren die Unabhängigkeit seiner früheren Kolonie forderte, knickte Regierungschef Pedro Sanchez ein, nachdem Marokko die Landgrenzen zu den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla öffnete und Zigtausende Migranten auf spanisches Territorium gelangten.

Seit der Unterstützung des marokkanischen Autonomieplans durch Madrid ist Spanien erneut zu einem „befreundeten“ Staat geworden. Wenn es um die Souveränitätsrechte Marokkos geht, wendet Rabat stets harte geopolitische Maßnahmen und Positionen an, so Haizam Amirah Fernandez. Dass König Mohammed aber selbst in dieser Krisenlage unter befreundeten und nicht befreundeten Ländern unterscheidet, hält der Experte für fahrlässig. Mehr noch: Das Erdbeben hätte für die ganze Maghreb-Region eine Chance auf Annäherung zwischen den verfeindeten Ländern sein können, sagt er.

Warum Marokko die Hilfe aus Deutschland und Israel nicht annimmt, ist jedoch unklar. 2021 führte Streit über die Westsahara zwar zu Verstimmungen zwischen Berlin und Rabat. Danach hätten sich die diplomatischen Beziehung aber wieder verbessert, sagte am Montag ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Obwohl auch Israel seit 2022 die marokkanische Souveränität über die Westsahara anerkennt, verhält sich Rabat wegen des Palästina-Konflikts immer noch zurückhaltend, was freundschaftliche Beziehungen mit Israel betrifft.

Wut in der Bevölkerung

Für Rabats Geopolitik hat die Bevölkerung in den am schlimmsten betroffenen Bergdörfern im Süden und Westen der Touristenhochburg Marrakesch allerdings kaum Verständnis. Mit Wut wird auch zur Kenntnis genommen, dass weder der Regierungschef noch König Mohammed sich bislang in der Region gezeigt haben. Aus Angst vor Repressalien wird Protest an dem allmächtigen Monarchen allerdings nur hinter vorgehaltener Hand geäußert.

Unterdessen stieg die Zahl der Toten am Dienstag auf fast 3.000 an; sie dürfte in den kommenden Tagen weiter steigen. Von der Katastrophe sind laut Unicef etwa 100.000 Kinder betroffen. Der Bedarf an Hilfsgütern im Atlasgebirge ist groß. Laut Marokkanischem Roten Halbmond fehlt es an Unterkünften, Nahrung und Trinkwasser. Mehr als 300.000 Menschen in Marrakesch und Umgebung sind von dem Beben direkt beeinträchtigt. Auch Caritas Marokko und die diözesane Caritas Rabat kümmern sich um die Menschen.

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