Soziologe: Keine scharfe Polarisierung in Deutschland

VonC. Peters

29. September 2023

Hamburg (KNA)Der Soziologe Steffen Mau widerspricht dem Bild einer immer stärker gespaltenen Gesellschaft in Deutschland. „Bei vielen großen Fragen herrscht überraschend großer Konsens“, sagte der Professor der Humboldt-Universität zu Berlin dem Magazin „Spiegel“ (Samstag). „Die Einstellungen zu Armut und Reichtum, zu sexueller Diversität, zur Migrations- und zur Klimafrage driften nicht auseinander. Auch die Mitte bricht nicht entzwei.“ Deutschland sei „viel weiter als seine Debatten. Und zwar in allen Schichten, allen Altersgruppen, den meisten Regionen. Es gibt eine gewachsene Alltagstoleranz für mehr Diversität.“

Der Leibniz-Preisträger, der kürzlich Gastredner
bei der Klausurtagung der Ampelkoalition war, räumte zugleich ein, dass die öffentliche Debatte durchaus polarisiert sei. „Es gibt so etwas wie gefühlte Polarisierung. Die Leute überschätzen die politischen Differenzen“, sagte er. Das liege auch an einer Schubladisierung: „Wir glauben permanent zu erkennen, wer in welches Lager gehört, und sortieren uns auch selbst ein. Eine gefühlte Polarisierung kann so zu einer echten Polarisierung werden.“ Zu den emotionalisierten Debatten trügen auch die sozialen Medien bei, die polarisierenden Positionen übergroße Aufmerksamkeit ermöglichten. „Die Ränder bestimmen dort den Diskurs.“

„Konflikte dienen als Identitätsverstärker“

Eine Risiko sieht Mau auch im gegenwärtigen politischen System. Weil die meisten Wähler weitgehend entideologisiert seien, müssten die Parteien ihre Anhänger emotionalisieren – und die Gegenseite skandalisieren. „Konflikte dienen als Identitätsverstärker.“ Häufig seien eher kleinere Themen die Triggerpunkte: Tempolimit, die Gendersternchen oder auch lokale Subventionen für Lastenräder: „Das sind Chiffren für eine Summe von gesellschaftlichen Veränderungen, die etliche Leute unbehaglich finden.“

Die Gefahr, dass politische Gegensätze zu einer scharfen Spaltung führen könnten, sieht der Soziologe beispielsweise in der Klimafrage. „Die unteren Schichten sind laut unserer Studie weder Klimaleugner noch Klimaskeptiker, aber sie beantworten die Klimafrage stärker in Begriffen der Gerechtigkeit“, sagte er. Bei ihnen sei die Klimafrage immer an die Frage gekoppelt: Kann ich mir das leisten? Das müssten die Grünen dringend stärker beachten.

Wer Leute für Veränderungen begeistern wolle, müsse ihnen das Gefühl geben, dass sie die Veränderungen nicht nur erdulden oder erleiden, sondern mitgestalten könnten. „Erst dann sind sie bereit, Gewohnheiten und Besitzstände zu überdenken.“

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