Bonn (KNA)Herzinfarkt, schwerer Unfall oder Waldbrand: In ganz Deutschland können sich die Menschen rund um die Uhr darauf verlassen, dass jemand den Hörer abnimmt, wenn die Notfallnummern 110 und 112 gewählt werden.
Das ist nicht selbstverständlich: Bis in die 70er Jahre mussten Notfallpatienten, Schwerverletzte oder Unfallopfer lange auf Hilfe warten. Notrufnummern gab es nur in Großstädten. Wer in Kleinstädten oder auf dem Land in Not geriet, musste im Telefonbuch nach einer Polizeistelle oder dem nächsten Krankenhaus suchen. Erst am 20. September 1973, vor genau 50 Jahren, beschlossen die Ministerpräsidenten der westdeutschen Bundesländer und die Bundesregierung die Einführung der bundesweit einheitlichen Notrufnummern.
Der Krankenwagen brauchte fast eine Stunde
Zu verdanken war dies vor allem der Hartnäckigkeit – oder auch Starrköpfigkeit – des Architekten-Ehepaars Ute und Siegfried Steiger aus dem schwäbischen Winnenden. Der Unfalltod ihres Sohnes Björn 1969 ließ ihnen keine Ruhe: Der Achtjährige wurde auf dem Heimweg vom Schwimmbad von einem Auto angefahren. Der Krankenwagen brauchte fast eine Stunde – zu spät für den Jungen.
„Unser Sohn hätte vielleicht gerettet werden können, doch 1969 gab es in Deutschland noch keinen funktionierenden Rettungsdienst“, schrieben die Eltern im Rückblick. Noch im selben Jahr gründeten sie die Björn-Steiger-Stiftung und wurden damit zum Motor für ein besseres Rettungswesen mit einheitlichen Notrufnummern. In der DDR waren die 110 für Polizei und 112 für die Feuerwehr bereits seit 1958 gültig.
Erst Klagen führte zum Ziel
Ein zäher Kampf: Dem Ehepaar Steiger gelang es zunächst, die Notrufnummer in Nordwürttemberg in den Ortsnetzen der Post einzuführen. Zu teuer, zu kompliziert, hieß es dann aber mit Blick auf eine bundesweite Einführung. Siegfried Steiger musste erst das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik verklagen, ehe sich die Politik bewegte.
Zwar wurde die Klage abgewiesen, doch brachte die öffentliche Aufmerksamkeit den Durchbruch. Im September 1973 klingelte bei den Steigers das Telefon. Am Apparat war Bundespostminister Horst Ehmke (SPD). „Gerade haben wir die Einführung der Notrufnummern 110 und 112 beschlossen“, sagt er. „Ihr Dickschädel hat sich durchgesetzt.“
EU-weiter Durchbruch
1991 entschied auch der EU-Ministerrat, dass – auch in Ergänzung zu den nationalen Notrufnummern – die 112 in allen EU-Ländern eingeführt wurde. Seit 2003 müssen die Telekommunikationsbetreiber den Rettungsdiensten auch Informationen zum Standort des Anrufers übermitteln, um ein rasches Auffinden zu ermöglichen. Seit 2009 hilft die 112 europaweit kostenfrei auch aus dem Mobilfunknetz. Wie oft die Notrufnummern genutzt werden, darüber gibt es wegen der kleinräumigen Zuständigkeiten nur Schätzungen: Von bundesweit rund 16,9 Millionen Anrufen im Jahr 2021 geht die Stiftung aus.
Unterdessen hat sich die Steiger-Stiftung, die sich als Denkfabrik versteht, weitere Ziele gesetzt: Auch der Aufbau der Notruftelefonnetze an deutschen Straßen, der Sprechfunk im Krankenwagen oder die Luftrettung wurden von ihr mit initiiert oder finanziert. Aktuell bildet die Stiftung im Rahmen der Initiative „Retten macht Schule“ Lehrer und Schüler in der Reanimation aus. Im Rahmen des Projekts „Kampf dem Herztod“ treibt sie die Verbreitung von Defibrillatoren voran. Außerdem geht es um den Ausbau eines Baby-Notarztwagen-Systems und die Förderung von Notfall-Apps, mit deren Hilfe ehrenamtliche Ersthelfer über Notfälle in ihrer unmittelbaren Nähe informiert und dorthin navigiert werden.
Viel Geld und Arbeitszeit fließt in die Kampagne „Rettet die Retter“. Die Notfallversorgung stehe derzeit kurz vor dem Kollaps, lautet die Analyse. Dafür sorgt immer häufiger falscher Alarm von Witzbolden oder einsamen Menschen. Außerdem werde die Notfallnummer häufig gewählt, obwohl es sich nur um leichtere Erkrankungen handele, so die Stiftung. Die Retter müssten trotzdem ausrücken. Zudem besteht in Deutschland ein Flickenteppich von Leitstellen und Systemen, die nicht miteinander vernetzt sind. „Deutschland braucht ein bundeseinheitliches Rettungsdienstrahmengesetz, einheitliche Qualitätsstandards und eine unabhängige Instanz, die diese Standards kontrolliert und sanktioniert“, fordert die Stiftung.