Jerusalem (KNA)Wenn Daniel Jom Tov aus seinem Bürofenster schaut, sieht er die Westmauer, die heiligste jüdische Stätte und vielen unter dem Namen Klagemauer bekannt. Auf Hebräisch heißt sie schlicht die „Kotel“, die Mauer. Zurzeit schaut Daniel Jom Tov selten aus dem Fenster. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Bildschirm seines Computers, auf dem immer mehr Gebetsanliegen eingehen.
Der orthodoxe Jude ist in friedlicheren Zeiten für Führungen in den Tunneln entlang der Westmauer, für Bar- und Bat-Mitzwa-Feiern und für das regelmäßige Psalmengebet zuständig. Seit am 7. Oktober die radikalislamische Hamas Israel den Krieg erklärte, kümmert er sich um die spezielle „Gebetslinie“, die die Verwaltung der Heiligen Stätte eingerichtet hat, „24/6, für den Moment“ – mit Blick auf den jüdischen Ruhetag Schabbat.
Daniel Jom Tov hält die Liste in seinen Händen. 1.997 Namen und Gebetsanliegen, aus aller Welt und auch von Christen. „Wir nehmen alle Anliegen mit in unser Gebet, ohne Zensur. Die Kotel ist ein Haus des Gebets für alle“, sagt er. Wenn er in ein paar Minuten an den Computer zurückkehren wird, werden es 2.440 sein.
Die Liste wird er in den kleinen Raum in den Tunneln entlang der Klagemauer bringen, jenem Ort, der dem Allerheiligsten des früheren Tempels am nächsten ist. Jeden Tag lesen Freiwillige dort alle 150 Psalmen, die Liste mit den Namen unter den Psalmenbüchern. Jeweils die neuen Namen werden laut gelesen. „Wenn das alles vorbei ist, werden wir die Namen in die Mauerritzen der Kotel stecken“, sagt Jom Tov. „Bis dahin sollen am Ort des Psalmengebets präsent sein.“
„Hier ist das Tor des Himmels, alle Gebete gehen durch diesen Ort“, sagt der Rabbiner der Kotel, Schmuel Rabinowitz, und verweist auf den biblisch überlieferten Traum Jakobs von der Himmelsleiter, der Verbindung zwischen Himmel und Erde, die hier gestanden haben soll. Eine Woche Krieg haben sein müdes Gesicht gezeichnet. An Schlaf sei nicht zu denken, entschuldigt er ein Gähnen. Angesichts der Gräueltaten, die schlimmsten „seit der Schoah“, sei das Gebet wichtiger denn je.
Projekt zum ständigen Psalmengebet
Auch dafür ist die Gebetslinie, die auf einem bestehenden Projekt zum ständigen Psalmengebet beruht. Bereits vor dem Krieg seien täglich von 14.00 bis 17.00 Uhr alle Psalmen gebetet worden, von einem festen Team aus zwölf Männern; „damit wir auch dann zehn sind, wenn mal jemand krank oder verspätet ist“. Ein öffentlicher Gottesdienst erfordert nach jüdischem Religionsrecht für seine Gültigkeit die Anwesenheit von mindestens zehn Männern (Minjan). Jetzt beten sie von morgens bis abends. Die Tunnel entlang der Westmauer, in denen sie beten, sind zugleich Schutzraum, sollten die Sirenen vor einem Raketenangriff auf die Heilige Stadt warnen.
Vor den Fenstern von Daniel Jom Tov und Schmuel Rabinowitz, an der Heiligen Stätte, herrscht unterdessen ungewöhnliche Leere. Der einsetzende Regen unterstreicht das Gefühl schwerer Traurigkeit. Allein heute, dem Beginn des jüdischen Monats Cheschvan, sagt Jom Tov, hätten 15 Familien für Bar- und Bat-Mitzwot, die jüdischen Feiern der religiösen Mündigkeit, kommen sollen. Sie haben abgesagt, wie viele in den letzten Tagen. Sein Zwölferteam aber arbeitet unermüdlich, mit vielen weiteren Freiwilligen, die einzuspringen bereit sind. „Wir brauchen viel göttliche Gnade in dieser Situation“, sagt Daniel Jom Tov.
Plötzlich trat Heilung ein
An der Macht des Gebets haben Jom Tov und Rabinowitz keine Zweifel. Zu viele Geschichten haben sie gehört, von Todkranken etwa, deren Angehörige um ein Gebet an der Klagemauer baten, und plötzlich trat Heilung ein. Manchmal macht Daniel Jom Tov Videos für die Familien, „damit sie fühlen, dass es jemanden gibt, der da ist, das gibt Sicherheit und ein Gefühl der Solidarität“, denn schließlich habe die Seele „einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit“.
In einem weiteren Punkt sind sich Rabinowitz und sein Mitarbeiter Jom Tov einig. Nach Monaten erbitterter innerisraelischer Kämpfe über die politische und religiöse Ausrichtung des Landes hat sich der Wind „um 180 Grad“ gedreht, wie Jom Tov es formuliert. Auf einmal gebe es kein rechts oder links, kein religiös oder säkular und kein aschkenasisch oder sephardisch mehr, nur noch ein Volk Israel. „Schade, dass das nur in diesen Zeiten geht – aber zum Glück geht es jetzt.“
Gebetslinie steht allen offen
„Das ganze Volk ist eine Familie“, bekräftigt Rabinowitz, und auch die Christen seien „sehr empathisch und teilen unseren Schmerz“. Auch unter den Muslimen, ist er überzeugt, gibt es jene, die mitfühlen, die aber „Angst haben“, das auszusprechen. Die Gebetslinie steht den Anliegen aller offen. Aktionen wie gemeinsame Gebete der verschiedenen Religionen in Jerusalem seien hingegen nicht geplant. „Dies ist die Zeit für das Gebet in der eigenen kleinen Gemeinschaft, nicht eine Zeit für große Events.“