Gewalt und Zerstörung im Kibbuz Kissufim sichtbar

VonC. Peters

2. November 2023

Kissufim (KNA)Keine zwei Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen liegt der Kibbuz Kissufim. Durch seine Felder führt jene Straße, die bis zum israelischen Abzug 2005 das Kernland mit 21 Siedlungen im Gazastreifen verband. Normalerweise lebt Kissufim von Landwirtschaft: Kühe für Milch, Hähnchen für Fleisch. Die meisten Avocados des Landes kommen von hier. Nur ist seit dem 7. Oktober nichts mehr normal in Kissufim. 180 Terroristen der Hamas stürmten den Militärstützpunkt nebenan. Mehr als 100 von ihnen drangen in den Kibbuz ein. Ermordeten 15 Menschen, darunter sechs thailändische Feldarbeiter. Drei Mitglieder des Kibbuz werden seither vermisst. Die anderen kämpfen mit dem Trauma des „schwarzen Schabbat“.

Die Welle der Gewalt hat Kissufim eingefroren. An der Hauswand die Schale mit dem Katzenfutter, unberührt, auf dem Gartentischchen die Kaffeetasse, umgekippt. Die Kartoffeln in der Anrichte keimen vor sich hin. Die angebrochene Limonadenflasche auf dem Küchentisch. Auf dem Boden darunter das zu einer dunklen Masse getrocknete Blut. Über allem: der Hauch des Todes.

Blanke Gewalt

Zeit ist kein verlässliches Maß mehr in Kissufim. Die Hektik des Kampfes, das endlose Warten, das Leiden in Zeitlupe. Das abrupte Ende und die unbekannte Zukunft. Alles überlagert sich beim Anblick der unfassbaren Zerstörung und beim Anhören von Augenzeugenberichten der blanken Gewalt. „Ich schlafe seit fast einem Monat nicht“, sagt Benjamin „Benni“ Hasson. „Ich höre sie schreien.“ Es ist das erste Mal seit dem 7. Oktober, dass Benni sich zwischen den Gebäuden seiner Heimat bewegt. Die Häuser betreten kann er nicht, und auch seinem eigenen Haus nähert er sich nur bis auf ein paar hundert Meter. „Zu schwer“, sagt er.

Trotzdem hat er sich zum Sprecher seines Kibbuz machen lassen, führt Fremde, Menschen mit Kameras, Notizblock und Aufnahmegerät durch die Szenen des Horrors. „Weil die Welt sehen muss“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Es ist ein kleiner Kibbuz, hier lebten bis zu dem Schreckenstag rund 70 Familien, 385 Menschen, 700 Kühe und 250.000 Hühner. „Jeder kennt hier jeden“, sagt Benni. Da, in dem verbrannten Haus, waren sie zu dritt. Vater, Mutter, Sohn. Vor einem halben Jahr haben sie die Bar Mitzwa des Jungen gefeiert, die jüdische Religionsmündigkeit. „Ich habe ihn darauf vorbereitet“, so Benni. Jetzt sind sie alle tot.

„Sie war meine beste Freundin.“

Vor dem Nebenhaus steht der E-Roller der 84-jährigen Nachbarin. Die Zeitung in seinem Korb trägt das Datum einer Zeit, als die Kibbuzwelt am Gazastreifen noch in Ordnung war. Benni geht ein paar Meter Richtung Haustür. Dann dreht er ab. Der Gang ist zu schwer. „Sie war meine beste Freundin.“ Die getrocknete Blutlache im Innern vermag er nicht anzusehen. Der 80-jährige Nachbar zur Rechten hatte mehr Glück. Die Kibbuz-eigene Sicherheitseinheit konnte ihn retten.

Rund 20 Leute bilden das Sicherheitsteam des Kibbuz. Ihre Aufgabe ist es, Ernstfälle bis zum Eintreffen von Armee oder Polizei zu handhaben, „eine halbe Stunde, eine Stunde, aber doch nicht 24 Stunden“. Welche Gefühle der Kibbuzbewohner gegenüber den staatlichen Stellen hegt, ist schwer auszumachen. Gegen die schiere Überzahl der Terroristen und den Überraschungseffekt jedenfalls hatten sie in Kissufim keine Chance. „Sie waren überall, mit Schusswaffen, mit Granaten, mit Panzerfäusten. Manche haben sie erschossen, manche lebendig verbrannt, anderen haben sie die Kehlen durchgeschnitten. Nicht ein Haus ist unversehrt geblieben, kaum ein Auto mehr ganz.“ Die sechs Thailänder hätten die Terroristen zunächst ausgeräuchert, dann auf der Flucht erschossen und in einer Weise zerstückelt, „dass keiner mehr sagen konnte, welches Körperteil zu welcher Leiche gehört“. Dann versagt Bennis Stimme.

Bild des Grauens

„Segne dieses Haus und die es betreten“, steht auf dem Schlüsselbrett einer weiteren Wohnung des Kibbuz. Daran hängt ein Schutzamulett mit dem Porträt des marokkanischen Rabbiners Baba Sali. Daneben die Mesusa, die Schriftkapsel am Türpfosten, der viele schützende Kraft zusprechen. „Schma Israel“, höre, Israel, steht auf dem eingerollten Pergament der Kapsel, das wichtigste jüdische Gebet. An den Schutz- und Segenswünschen vorbei bietet sich ein Bild des Grauens. Die Küchenschränke sind rußgeschwärzt, Einschusslöcher bilden ein wildes Muster an jeder Wand. Die Bettdecke hat ihre Daunen auf den Schlafzimmerboden ausgeblutet, das Aquarium ist zerborsten. Die Familie mit vier Kindern hat überlebt. Wie die anderen Überlebenden sind sie jetzt in Hotels am Toten Meer untergebracht.

Auch Benni und seine Familie haben überlebt. Wie, das kann der Mann in der schutzsicheren Weste mit der Aufschrift „Kissufim-Sprecher“ selbst nicht begreifen. Bei der letzten Renovierung habe er schusssichere Türen bestellt, „ein Versehen, das jetzt die Terroristen draußen gehalten hat“. Vier Granaten warfen sie nach seiner Schilderung ins Haus. Explodiert ist keine. Dann brachten sie einen Sprengsatz an der Gasflasche am Eingang an. Bevor sie ihn mit einem Schuss aus der Ferne auslösen konnten, traf die Terroristen eine Kugel der Armee. „Höre Israel“, habe er die ersten Worte des Gebetes begonnen. Erst als die Soldaten den Satz vollendeten, sei er sich sicher gewesen, dass es wirklich israelische Soldaten waren. „Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig!“ Ob er an Gott glaube? Für einen Moment zeigt sich ein Lächeln in Benjamin Hassons Gesicht. „Ich glaube an alles.“

Trauma des Erlebten

Die Kibbuz-Bewohner tragen die Sehnsucht im Namen: Die Sehnsüchtigen, Kissufim, für die aus Nord- und Lateinamerika stammende Gründergeneration Ausdruck der zionistischen Sehnsucht nach dem Land Israel. Ob sie sich nach dem 7. Oktober nach einer Rückkehr auf ihr Land sehnen? Für diese Frage sei es zu früh, sagt Benni. In die Avocadoplantagen und auf die Felder konnten sie seither keinen Fuß setzen. Die Kühe sind in einem anderen Kibbuz untergekommen. Den Hühnern gab man – „nach Tagen ohne Versorgung und Strom“ – den Gnadenschuss. Das Trauma des Erlebten ist auch in der Abwesenheit der Bewohner präsent. Vielleicht hilft die jüdische Tradition des Trauerns: „Wir sind in der Zeit der Schiwah“, sagt Benjamin Hasson.

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