Früherer Essener Kardinal Hengsbach unter Missbrauchsverdacht

VonC. Peters

19. September 2023

Essen (KNA)Er gehört zu den profiliertesten Kirchenmännern in der deutschen Nachkriegsgeschichte – und steht nun unter Missbrauchsverdacht: Dem 1991 verstorbenen Kardinal Franz Hengsbach werden sexuelle Übergriffe in den 1950er und 1960er Jahren vorgeworfen. Mindestens ein Vorwurf bezieht sich auf eine Minderjährige. Nachdem eine dritte Person Anschuldigungen erhoben hatte, machte das Bistum Essen diese am Dienstag öffentlich. Zugleich rief es mögliche weitere Betroffene auf, sich zu melden.

Hengsbach ist der erste deutsche Kardinal, der unter Missbrauchsverdacht steht. Vorwürfe richten sich noch gegen zwei weitere deutsche Bischöfe: gegen den aus dem Erzbistum Freiburg stammenden früheren Auslandsbischof Emil Stehle (1926-2017) und den ehemaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen (1907-1988).

Jüngster Vorwurf: Oktober 2022

Der jüngste Vorwurf gegen Hengsbach wurde laut Bistum Essen im Oktober 2022 erhoben und bezieht sich auf das Jahr 1967. Angaben über die Art des Übergriffs, das Geschlecht oder das Alter macht das Bistum in diesem Fall nicht und begründet dies mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person.

Zwei weitere Anschuldigung stammten bereits aus dem Jahr 2011. Eine davon sei von der in diesem Fall betroffenen Person aber wieder zurückgezogen worden, da die Schilderungen aufgrund verschwommener Erinnerungen falsch gewesen seien.

Zeit als Weihbischof in Paderborn

Der andere Vorwurf aus dem Jahr 2011 sei damals vom Vatikan als nicht plausibel eingestuft worden. Er bezieht sich sich auf das Jahr 1954 und damit auf Hengsbachs Zeit als Weihbischof in Paderborn. Im Zuge der jüngsten Nachforschungen sei die Anschuldigung aber noch einmal geprüft und jetzt als glaubwürdig bewertet worden, teilte das Erzbistum Paderborn ebenfalls am Dienstag mit.

Eine Frau habe angegeben, dass sie als 16-Jährige von Franz Hengsbach und dessen Bruder Paul sexuell missbraucht worden sei. Der 2018 verstorbene Bruder war auch Priester des Erzbistums. Bei einer neuerlichen Prüfung seiner Personalakten sei aufgefallen, dass bereits 2010 eine weitere Frau Missbrauchsvorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Auch dieser Fall sei erst als nicht greifbar eingestuft worden. Nach einer Beschwerde und erneuter Prüfung habe die Betroffene aber 2019 und noch einmal 2022 Zahlungen der Kirche in Anerkennung ihres Leids erhalten.

Anwalt der Bergleute

Hengsbach baute als erster Bischof das 1958 gegründete Bistum Essen auf, das aus Teilen der Bistümer Köln, Münster und Paderborn entstand. Er leitete es 33 Jahre lang bis 1991. Zuvor war er Weihbischof in Paderborn. Bei den vielen Zechenschließungen machte sich der kirchenpolitisch konservative Kirchenmann zum Anwalt der Bergleute; Industrie und Politik drängte er zu sozialen Ausgleichsmaßnahmen. Hengsbach war auch 17 Jahre Militärbischof und begründete das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Zahlreiche Straßen und Einrichtungen sind nach ihm benannt.

In Anbetracht des neuen Vorwurfs aus dem vergangenen Jahr und unter Berücksichtigung aller Kenntnisse habe er sich jetzt dazu entschieden, alle Vorwürfe gegen Hengsbach öffentlich zu machen, erklärte Overbeck am Dienstag. Angesichts der Beschuldigungen sei es ihm wichtig, „mögliche weitere Betroffene zu ermutigen, sich zu melden.“

„Andere Bewertung der Vorwürfe“

Das Erzbistum Paderborn zeigte sich selbstkritisch: „Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt“, heißt es in der Erklärung. Die Frauen hätten durch den Umgang mit dem Fall erneut Leid erfahren.

Die Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“ verlangte eine Untersuchung durch eine unabhängige Kommission. Es gebe immer noch viele zu klärende Fragen, etwa danach, wer in Rom für eine Einstellung der Ermittlungen gesorgt habe: „War es etwa der ehemalige deutsche Papst und vormalige Chef der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger?“

Der Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, der aus dem Bistum Essen stammt, begrüßte das Vorgehen des Bistums. Angesichts der weit zurückliegenden Zeit und dürftigen Aktenlage könne nur über die Befragung von Betroffenen und Zeitzeugen ein umfassenden Bild entstehen. Derzeit gebe es keinen Grund, an der Darstellung der Frauen zu zweifeln, die sich in ihrem hohen Lebensalter einem immensen Stress aussetzten. Dem Erzbistum Paderborn warf Norpoth vor, die Vorwürfe 2010 und 2011 verantwortungslos und oberflächlich behandelt zu haben: „Man hat es damals nicht ernst genommen.“

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