Flüchtlinge benötigen neue Ansätze bei Trauma-Behandlung

VonC. Peters

22. September 2023

Berlin/Weimar (KNA)Wer erlebt hat, wie der eigene Bruder gefoltert und getötet wird, ist schwer traumatisiert. Und er braucht besondere Hilfe: Nach Einschätzung von Psychotherapeutin Sieglinde Eva Tömmel ist für traumatisierte Flüchtlinge hierzulande ein neuer Therapieansatz nötig. „Die Traumatisierungen von vielen Migranten sind so schwer, dass wir die Behandlungsstandards in Deutschland verändern müssen“, sagte Tömmel am Freitag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin. „Flüchtlinge haben oft alles verloren, was für sie Bedeutung hatte. Traumatisierungen dieses Ausmaßes gibt es bei uns in der Regel nicht.“

Psychotherapie für Flüchtlinge ist Thema bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, die von Freitag bis Sonntag in Weimar stattfindet.

Voraussetzungen für eine Integration

Tömmel forderte, den interkulturellen Aspekt in die Ausbildung von Psychotherapeuten zu integrieren. „Das gibt es bisher nicht“, so Tömmel. „Je besser unsere Psychotherapien greifen, desto eher gelingt es den Zugewanderten, sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden. Wer traumatisiert ist, kann zunächst nicht denken und nicht lernen – Voraussetzungen für eine Integration.“ Zudem hätten viele traumatisierte Flüchtlinge durch die Erfahrung von Folter, Gewalt und Krieg auch eine andere Einstellung zu Gewalt, warnte sie.

Die Expertin betonte weiter, dass sich die Psychotherapie hierzulande sehr an der europäischen Kultur orientiere. Dies sei nicht ohne weiteres auf Flüchtlinge etwa aus Afghanistan übertragbar. So liefen die Sitzungen etwa sehr viel emotionaler ab. „Es kommt oft zu extremen Gefühlsausbrüchen wie lautem Weinen und Schreien“, so Tömmel. „Damit muss man umgehen können.“ Die Psychoanalytikerin behandelt seit der ersten Flüchtlingswelle 2015/16 afghanische Geflüchtete in der Nähe von München psychotherapeutisch.

Emotionalere Reaktion

Gleichzeitig erwarteten die Flüchtlinge auch vom Therapeuten eine viel emotionalere Reaktion als das in Therapiesitzungen ansonsten üblich sei. „Normalerweise geht es in unseren Therapien um eine gleichbleibende Aufmerksamkeit und ruhiges Zuhören“, sagte sie. „Das ist für diese Patienten aber nicht geeignet.“ Zudem seien einige Analphabeten oder könnten kein Deutsch; ein Dolmetscher sei obligatorisch.

Die Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich mit der Kultur des jeweiligen Herkunftslandes beschäftigen, forderte Tömmel. „Sonst wird kaum verständlich, was die Klienten sagen oder wie sie sich verhalten“. Als Beispiel führte sie etwa das Liegen auf der Coach an, was gerade für männliche Flüchtlinge aus muslimischen Ländern nicht infrage komme.

Ein weiterer Unterschied sei, dass nicht-europäische Kulturen viel weniger auf ein individuelles Ich konzentriert seien. „Bei uns gehen die Menschen als Individuen zur Therapie. Für afghanische Frauen etwa dagegen ist die eigene Vorstellung von sich untrennbar mit der Familie verknüpft.“ Diese sei – wenn auch nicht körperlich anwesend – immer mit im Therapieraum.

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