Tel Aviv (dpa) – Trotz der Einhaltung der Feuerpause im Gaza-Krieg ist die erwartete Freilassung weiterer Geiseln aus der Gewalt der islamistischen Hamas ins Stocken geraten. In letzter Minute stoppte die Terrororganisation die unmittelbar bevorstehende Übergabe einer zweiten Gruppe Geiseln an Israel.
Als Grund nannte die Palästinenserorganisation, dass Israel aus ihrer Sicht gegen einen Teil des Geisel-Deals verstoßen habe. Sie warf Israel vor, Hilfslieferungen nicht wie vereinbart auch in den nördlichen Teil des Gazastreifen ermöglicht zu haben.
Ob dies tatsächlich Teil des von Katar vermittelten Abkommens zwischen den beiden Konfliktparteien war, blieb zunächst unklar. In Israel war zunächst immer die Rede davon, Transporte mit Hilfsgütern wie Nahrung und Treibstoff in den Süden zu ermöglichen, wo sich Zehntausende Palästinenser vor den Kämpfen im Norden hingeflüchtet haben. Auch gab der militärische Arm der Hamas an, Israel halte sich außerdem bei der Freilassung von Häftlingen nicht «an die vereinbarten Standards».
Zuvor hatte es Berichte gegeben, dass die Übergabe der Geiseln bereits begonnen habe. Es war nach unterschiedlichen Angaben von 13 oder 14 Israelis die Rede, die in der zweiten Gruppe freigelassen werden sollten. Die Geiseln sollten Berichten zufolge sogar bereits an das Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) übergeben worden sein. Eine Bestätigung gab es dafür nicht. Unklar war zunächst auch, wie lange die angekündigte Verzögerung dauern wird. Auch war offen, wie Israel auf die Verzögerung reagieren würde.
Am Freitag waren 24 Geiseln – 13 Israelis sowie 11 Ausländer – freigekommen. Unter ihnen waren auch vier Deutsch-Israelis. Im Gegenzug wurden 39 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlassen. Das Abkommen zwischen Israel und der Hamas sieht vor, dass für jede Geisel aus Israel drei palästinensische Häftlinge freikommen sollen. So war auch wieder die Freilassung von mindestens 39 Häftlingen erwartet worden.
Biden begrüßte Freilassung der ersten Gruppe
Die Erleichterung über die Freilassung der ersten Geiseln nach Beginn der viertägigen Feuerpause am Freitag war zunächst groß. Doch war die Freude getrübt durch die Verzögerung und die Sorge um die weiter in Gefangenschaft verbleibenden mehr als 200 Verschleppten.
Nach der Freilassung der ersten Geiseln am Freitag hatte US-Präsident Joe Biden noch seine Hoffnung geäußert, dass dies «erst der Anfang» sei. Bundeskanzler Olaf Scholz forderte, die Hamas müsse «alle Geiseln bedingungslos freilassen».
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am Sonntag zu einem Besuch nach Israel reist, sagte in einer Videobotschaft: «Ich bin unendlich froh, dass die Freilassungen erster Geiseln, auch von deutschen Geiseln, begonnen haben, darunter auch die beiden kleinen Mädchen, deren Vater noch vor wenigen Wochen voller Verzweiflung hier im Schloss Bellevue vor mir saß.» Er dankte den Vermittlern. Zugleich betonte Steinmeier: «Der Weg zur Beendigung des Kampfes wird und kann nur über die Freilassung der Geiseln führen. Aller Geiseln!»
Emotionales Wiedersehen
Der Mann einer freigelassenen Deutschen äußerte sich glücklich über die Rückkehr seiner Frau und ihrer gemeinsamen zwei kleinen Töchter am Freitag. Er werde aber nicht feiern, ehe nicht alle Entführten zurückkehrten, sagte der Angehörige auf Hebräisch bei Facebook. «Ich bin glücklich, dass ich meine Familie zurückbekommen habe.» Er wolle ihnen helfen, sich von dem schrecklichen Trauma, das sie erlitten hätten, zu erholen. «Es liegen noch schwierige Tage vor mir.» Medien zufolge wurden die Mutter und die beiden Kinder aus dem Haus der Großmutter entführt. Die Großmutter selbst sei bei dem Massaker der Hamas am 7. Oktober von Terroristen ermordet worden.
Die von Israel und der Hamas ausgehandelte Waffenruhe sollte eigentlich mindestens vier Tage dauern. Gemäß der Vereinbarung sollen in dieser Zeit insgesamt 50 Geiseln freikommen. Eine Verlängerung der Feuerpause auf bis zu zehn Tage ist möglich, wie das in dem Konflikt vermittelnde Golfemirat Katar mitgeteilt hatte. Insgesamt sieht die Vereinbarung eigentlich einen Austausch von bis zu 100 Geiseln aus Israel gegen bis zu 300 palästinensische Häftlinge vor.
Transport von Hilfsgütern läuft
Mit der Feuerpause rollte als Teil der Vereinbarung der Transport humanitärer Hilfe über den ägyptischen Grenzübergang Rafah in den Süden des Gazastreifens, um die Not der Menschen zu lindern. Der Palästinensische Rote Halbmond sprach von 196 Lastwagen. Es sollten demnach 260 Lastwagen sein. Am Morgen wurden schon Lebens- und Arzneimittel sowie Gas zum Kochen und Diesel in den Küstenstreifen geliefert.
Klinikchefin: Geiseln körperlich in guter Verfassung
Die am Freitag nach Israel zurückgekehrten Geiseln wurden zunächst in Krankenhäuser in der Nähe von Tel Aviv gebracht und mit ihren Familien vereint. «Kein Auge blieb trocken», sagte eine Direktorin des israelischen Gesundheitsministeriums, Shoshy Goldberg, laut dem US-Nachrichtensender CNN auf einer Pressekonferenz vor Ort. Das israelische Militär teilte mit, dass die 24 aus dem Gazastreifen freigelassenen Menschen in «gutem Zustand» seien.
Auslöser des jüngsten Gaza-Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze begangen hatten. Dabei wurden mehr als 1200 Menschen getötet. Etwa 240 Geiseln wurden nach Gaza verschleppt, auch mehrere Deutsche.
Israel reagierte mit massiven Luftangriffe, einer Blockade des Gazastreifens und begann Ende Oktober eine Bodenoffensive. Dabei wurden nach Angaben der islamistischen Hamas fast 15.000 Menschen getötet. Mehr als 36 000 wurden demnach verletzt. Die Zahlen lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.
Delegation aus Katar für Geisel-Deal in Israel
Überraschend traf eine Delegation aus Katar in Israel ein. Das Golfemirat hatte die Abmachung über die Feuerpause und die Freilasung der Geiseln ausgehandelt. Ein Teil des katarischen «Einsatzteams» solle vor Ort weitere Schritte absprechen und sicherstellen, dass «der Deal weiterhin reibungslos verläuft», sagte ein Diplomat der Deutschen Presse-Agentur. Katar pflegt gute Kontakte zur Hamas, unterhält selbst aber keine diplomatischen Beziehungen zu Israel.
In der mindestens viertägigen Feuerpause sieht die Regierung Katars auch eine Vorlage für eine mögliche Verlängerung. «Wir haben die Formel, deshalb wird es leichter sein, einen zweiten Deal über die Bühne zu bringen», sagte Madschid al-Ansari, Sprecher des Außenministeriums, der Deutschen Presse-Agentur am Freitagabend.
Quellen: Mit Material der dpa.