Gaza/Tel Aviv (dpa) – Angesichts der immer katastrophaleren Lage im Gazastreifen wächst der Druck auf Israel, bei der Bekämpfung der islamistischen Hamas mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. Die israelische Armee verbreitete Erfolgsmeldungen. «Wir rücken an die Kommandozentralen der Hamas heran», sagte Israels Nationaler Sicherheitsberater Zachi Hanegbi. Regierungschef Benjamin Netanjahu bekräftigte das Ziel, die Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien. Dafür werde der Krieg «mit größerer Intensität» fortgesetzt.
Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, forderte bei einer Sondersitzung des WHO-Exekutivrats in Genf jedoch eine neue Feuerpause. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) betonte, es könne kaum noch humanitäre Hilfe für die Bevölkerung leisten. Und Außenministerin Annalena Baerbock warnte vor den Folgen. «Wir sehen auf dramatische Art und Weise nicht nur das Leid, sondern der Hunger nährt auch weiteren Terrorismus», sagte sie in Dubai. In einem Interview des Deutschlandfunks rief sie arabische Staaten auf, die Hamas dazu zu bewegen, die Waffen niederzulegen.
Auslöser des Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt hatten. Mehr als 1200 Menschen wurden dabei getötet. Durch die darauf folgenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen starben nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums inzwischen 17.700 Menschen.
OCHA: Umgebung des europäischen Gaza-Krankenhauses unter Beschuss
Ziele in der Nähe des europäischen Gaza-Krankenhauses und des Al-Amal-Krankenhauses im Süden des Küstenstreifens sind nach Informationen des UN-Nothilfebüros OCHA wiederholt beschossen worden. Dutzende Verletzte hätten deshalb die Notaufnahmen nicht erreichen können, berichtete OCHA. Die beiden Krankenhäuser sind ebenso wie andere Spitäler völlig überfüllt. Nach Schätzungen des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) mussten 85 Prozent der einst rund 2,2 Millionen Einwohner aus ihren Häusern fliehen, weil sie beschädigt oder zerstört wurden oder weil Israel wegen der Kämpfe zur Räumung von Gebieten aufgerufen hatte.
Palästinenser: Mehr als 30 Tote bei Luftangriff auf Gebäude
Nach palästinensischen Angaben wurden bei einem israelischen Luftangriff auf ein Wohnhaus in dem Flüchtlingsviertel Dschabalia im Norden des Gazastreifens mindestens 31 Menschen getötet. Die israelische Armee äußerte sich zunächst nicht dazu. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde teilte unterdessen mit, in das Al-Aksa-Krankenhaus im zentralen Teil des Gazastreifens seien seit Samstagabend 45 Leichen gebracht worden, die bei israelischen Angriffen getötet worden seien.
Nun auch israelische Artillerie-Einheiten im Gazastreifen
Die israelische Armee teilte mit, erstmals seit Beginn des Krieges vor mehr als zwei Monaten seien Truppen der Artillerie auch innerhalb des Gazastreifens im Einsatz, ergänzend etwa zu Panzer- und Bodentruppen. Bislang war die Artillerietruppe von der Grenzlinie aus im Einsatz. Bei Einsätzen im Bereich von Schedschaija seien mehr als 20 Ziele angegriffen worden. Dabei handele es sich um Waffenlager, mit Sprengfallen präparierte Häuser sowie Infrastruktur der islamistischen Terrororganisation Hamas.
Die Armee veröffentlicht seit Tagen auf Telegram Videos und Fotos vom riskanten Häuserkampf gegen die Hamas. In den teils engen Gassen der Orte im Gazastreifen kommt es dabei zu einem Nahkampf von Tür zu Tür mit Maschinenpistolen, Handgranaten und Panzerfäusten. Immer wieder werden dabei auch Eingänge zu Hamas-Tunneln in Schulen oder Wohnhäusern sowie umfangreiche Waffenfunde gezeigt. Sogar von Waffen, die in Plüschtieren versteckt seien, wurde berichtet. Die Angaben lassen sich noch nicht unabhängig überprüfen.
Hamas-Chef Sinwar bisher nicht gefasst
Den Chef der Hamas im Gazastreifen, Jihia Sinwar, konnten die Israelis bisher nicht aufspüren. Er soll sich kurz nach Beginn des Krieges in einem Hilfskonvoi in den Süden des abgeriegelten Küstenstreifens abgesetzt haben, meldeten israelische Zeitungen unter Berufung auf Informationen des Senders Kan. Israels Armee ist dabei, öffentlich den Eindruck zu vermitteln, dass die Hamas ins Schwanken geraten ist. Armeesprecher Daniel Hagari erklärte, Terroristen, die sich ergeben haben, hätten ausgesagt, dass sich die Kämpfer in einer «schwierigen Lage» befänden und die Hamas-Führung unter Sinwar die «Realität leugnet». Keine dieser Angaben kann von unabhängiger Seite überprüft werden.
In der Nacht zum Sonntag kursierte ein Video aus dem nördlichen Gazastreifen im Internet, auf dem laut der «Times of Israel» ein mutmaßlicher Hamas-Kämpfer zu sehen sei. Der Mann tritt aus einer Reihe anderer Männer, die wie er nur mit Unterhose bekleidet sind, mit erhobener Waffe hervor, geht an einem Panzer vorbei und legt sie vor einem israelischen Soldaten nieder. Die Szene zeige, wie sich die Männer den israelischen Truppen ergeben, hieß es in dem Bericht. Ihre Identität konnte jedoch zunächst nicht unabhängig überprüft werden. Israelische Einheiten seien sehr nah an Kommandozentralen der Hamas in Dschabalia und Schedschaija herangerückt, sagte derweil Hanegbi. Es seien bereits 7000 Hamas-Terroristen getötet worden. Eine totale Niederlage der Hamas werde auch den Weg zur Befreiung von derzeit noch 138 Geiseln aus der Gewalt der Islamisten frei machen.
Extremistische Palästinenser setzten allerdings auch am Sonntag ihre Raketenangriffe auf israelische Grenzorte fort.
Ägyptenwahl von Krieg überschattet
Der Gaza-Krieg überlagert auch Ägyptens Präsidentenwahl, die am Sonntag begonnen hat. Es wird erwartet, dass Amtsinhaber Abdel Fattah al-Sisi die Wahl erneut für sich entscheiden wird. In Ägypten gibt es die Sorge, dass die zu seinem Land gehörende und an Gaza grenzende Sinai-Halbinsel zum Ausgangsort neuer Angriffe auf Israel werden könnte, wenn Bewohner des Küstenstreifens wegen des Krieges dorthin flüchten. Gleichzeitig befürchtet die Regierung in Kairo, dass aus einer Massenflucht eine dauerhafte Vertreibung werden könnte.
Quellen: Mit Material der dpa.