Süßen (KNA)Der helle Steintisch ist knapp zwei Meter breit und mehr als acht Meter lang. Tief eingelassen in der Mitte zwischen den beiden langen Tischseiten ein Wasserlauf, in dem das Nass über Grabsteine mit den Namen und Daten Verstorbener fließt. Zwei riesige graue Sonnenschirme überspannen den Tisch einschließlich der von Metall eingefassten Holzhocker davor.
Das Ensemble im württembergischen Süßen gehört zum „Campus Vivorum“ („Feld der Lebenden“), einem im Sommer eröffneten „Labor- und Experimentierfeld zum Friedhof der Zukunft“ mit fiktiven Ruhestätten in einer ästhetisch komponierten Landschaft. Hier wird ein Areal nachempfunden, das sich von der Realität heutiger Friedhöfe stark unterscheidet.
Umgang mit Trauer heute
Auf rund 6.000 Quadratmetern wollen die Betreiber zeigen, wie Menschen heute mit ihrer Trauer über den Tod eines geliebten Menschen umgehen wollen – und was sie dabei von Friedhöfen erwarten. Die Initiative nimmt für den Campus in Anspruch, der weltweit erste dieser Art zu sein.
Zentrale Figur des Vorhabens ist Günter Czasny. Der Metallgestalter und Betriebswirt ist stellvertretender Geschäftsführer der Kunstgießerei Strassacker in Süßen. Neben dem Werk, aber ebenfalls auf Firmengelände entstand der Campus. Schon vor rund 30 Jahren spürte der ausgebildete Trauerbegleiter, dass sich auf den Friedhöfen etwas veränderte. Er nahm „das Verhalten Trauernder in den Blick“ – und stellte fest, dass Friedhöfe in vielen Punkten nicht den Erwartungen ihrer Besucher entsprachen.
Anonyme Gräberfelder
Mit den Jahren nahm die Zahl der Erdbestattungen ab und die der Feuerbestattungen zu. Vor allem in städtischen Milieus kamen anonyme Gräberfelder in Mode. Friedwalde, auch Beisetzungswälder genannt, entstanden als eine weitere Form des Totengedenkens; inzwischen gibt es im ganzen Bundesgebiet knapp 100.
Aber auch auf den schätzungsweise 35.000 deutschen Friedhöfen geschah etwas. Immer weniger Angehörige wollen sich dauerhaft um die Grabpflege kümmern, andere stören sich an sterilen Friedhofsordnungen, die individuelle Formen der Trauer verbieten und so den Abschied von geliebten Menschen erschweren: „Damit wenden wir uns nur weiter von den Menschen ab.“
Gefühl der Verbindung
Am Ende machten Angehörige „trotzdem das, was sie wollen, auch wenn sie es nicht dürfen“, sagt Czasny. „Sie legen zum Beispiel trotz eines Verbots Blumen, Engel und Bilder vor die Urnenwand.“ Wegen des Unbills verlören Friedhöfe gesellschaftlich aber immer weiter an Akzeptanz. Das habe damit zu tun, dass „auf Friedhöfen Hochsensibles geschieht“. Die physische Nähe zu einem Toten sei nicht mehr wiederherstellbar, das Gefühl der Verbindung zu dem Menschen bleibe indes. Es gehe um die „Umwandlung der Kommunikation“ zum Verstorbenen. Nicht Grabstein und Blumen, nicht Einfassung und Grableuchte machten den Ort so besonders, „sondern das Tun am Grab“.
Entsprechend präsentiert der Campus Angebote, die Menschen zum Verweilen einladen. Einzelne Sitzelemente oder Bänke, festmontiert wie beweglich – nicht lieblos in eine Ecke verbannt, sondern zugewandt platziert. Auch Einzel-, Doppel-, Familien- und Gemeinschaftsgräber wollen dem Wunsch nach Individualität Rechnung tragen. Biotopartige Wasserflächen, die auf viele anziehend und beruhigend wirken, können ebenfalls Teil eines Friedhofs sein, selbst Miniaturspielplätze mit Schaukel oder Wippe erfüllen einen Sinn.
Oder ein rechteckiger Steintisch, auf dessen Oberfläche eine feine Sandschicht ermöglicht, etwas zu malen oder zu schreiben. An der Seite ein Briefkasten aus Metall, in dem, als Beispiel, ein Brief „An Opa“ liegt. Die Botschaft bei alledem heißt: Kommt her, fühlt euch wohl.
Damit das möglichst gut klappt, hat Czasny alle an einen Tisch geholt, die mit Friedhöfen zu tun haben: Architekten und Landschaftsarchitekten, Psychologen, Theologen und Trauerbegleiter, Künstler und Steinmetze, Bestatter und Gärtner – und natürlich die Friedhofsverwalter. Und das scheint zu klappen. „Seit der Eröffnung des Campus werden wir überrannt“, so Czasny. Inzwischen wurde eine Agentur für Beratung und Planung von Friedhöfen gegründet, die sich in erster Linie an die Träger richtet.
Die Idee hinter dem Experimentierfeld für Tod und Trauer ist letztlich auch kommerziell. Denn nur wenn es gelingt, „attraktive Abschieds- und Lebensräume zu generieren“, wird es auch in Zukunft Friedhöfe geben. Und damit Arbeit für die Berufsgruppen, die das organisieren. Ganz falsch, sagt Czasny, wäre es dagegen, alles Neue nur als Gefahr zu begreifen.
„Werke der Barmherzigkeit“
Die Kirchen, die rund jeden dritten Friedhof unterhalten – davon zwei Drittel evangelisch und ein Drittel katholisch – unterstützen das Projekt. Karin Schieszl-Rathgeb, im Bistum Rottenburg für den Bereich Kirche und Gesellschaft verantwortlich, weiß, dass das Sterben und der Umgang mit den Toten zum Markt geworden sind: „Die christlichen Kirchen haben schon lange ihre Deutungshoheit verloren.“ Trotzdem hält sie es entsprechend der „Werke der Barmherzigkeit“ für eine Kernaufgabe von Katholiken und Protestanten, die Toten zu bestatten und die Trauernden zu trösten.
Für Schieszl-Rathgeb ist klar, dass es mehr braucht als funktionierende Friedhöfe, damit Menschen Phasen der Trauer gut bewältigen können. Vor allem, weil Sterben und Tod heute nur wenig Platz im Alltag haben. Hier können nach ihrer Überzeugung kirchliche Angebote helfen, zuversichtlich weiterzuleben.
Rituale neu deuten
Es gilt nach ihren Worten auch, Rituale neu zu deuten und zu entdecken. So sieht sie im Steintisch mit dem Wasserlauf den Ort für eine Art Abendmahlsgemeinschaft – und damit für österliche Hoffnung. Denn unmittelbar neben der Grabstätte ihrer Lieben können Menschen so zusammenkommen, sich treffen, miteinander reden und essen, also Mahl halten.
Trotz Beteiligung der beiden großen christlichen Kirchen: Der Campus zeigt sich religiös offen. Über einer rund ein Meter großen Bronzekugel sind am „Campus Vivorum“ an einem Drahtgeflecht die Symbole der fünf Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus befestigt und spiegeln sich in der Kugel. Nicht nur Religionen, schon jeder Einzelne geht unterschiedlich mit Tod und Trauer um. Und braucht deshalb auch im öffentlichen Raum Friedhof einen eigenen geschützten Raum.
Fürchtet der „Campus Vivorum“ nun, dass seine Ideen geklaut werden? „Nein“, sagt Czasny und lacht, „wir hoffen das sogar. Wenn es uns gelingt, Friedhöfen und Gräbern einen Nutzen zu geben, dann ist das gut für alle.“