Sexarbeit – Forscher fordern Bestrafung von Freiern

VonC. Peters

19. Oktober 2023

Berlin/Erfurt/Karlsruhe (KNA)Auf die Frage, wie sie heißt, antwortet die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar nur knapp: „Barbie“. So steht es tätowiert auch auf ihrem Rücken, darüber prangt eine in die Haut gestochene Krone. Es sieht aus wie ein Label, wie eine Warenkennzeichnung.

Sich weiter unterhalten will Barbie lieber nicht. Immer wieder schaut sich die zierliche Frau in neongrüner Leggings und schulterfreiem Top besorgt um: Ihr Zuhälter ist in der Nähe. Außerdem spricht sie kaum Deutsch.

Barbie ist Ungarin, sie geht anschaffen auf dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße, mitten in Berlin. Genauso wie Angelika, die aus der Slowakei kommt und an diesem sonnigen Herbstmorgen auf einer Bank im Kiez sitzt. Sie ist ein wenig gesprächiger. „Meine Familie, meine Kinder leben in der Slowakei“, erzählt die 51-Jährige. Sie lebt in Deutschlands Hauptstadt auf der Straße, hat ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen, den sie sorgfältig bewacht. Seit 16 Jahren ist sie hier. Momentan arbeite sie nicht, erzählt die Prostituierte. „Ich bin herzkrank. Frauen müssen aber gesund sein.“ Sie hoffe, bald einen Platz in der Caritas-Krankenwohnung zu bekommen, wo sie ohne Krankenversicherung behandelt werden kann.

Prostitution in Deutschland legal

Schätzungen gehen von 250.000 bis 400.000 Prostituierten in Deutschland aus, die wenigsten davon sind angemeldet. Prostitution ist in Deutschland seit 2002 komplett legal und auch nicht mehr „sittenwidrig“. Dadurch, so formuliert es die SPD-Abgeordnete Leni Breymaier, „ist die Bundesrepublik das Bordell Europas geworden“. Das Bild von der selbstbestimmten Sexarbeit sei aber „eine Mär“. Sie gründete vor rund vier Jahren einen Arbeitskreis im Bundestag, um die Einführung des sogenannten Nordischen Modells voranzutreiben.

Dieses verbietet den Sexkauf; aber nicht die Prostituierten werden kriminalisiert, sondern die Freier bestraft. Zudem werden Ausstiegsangebote geschaffen und bereits Schüler zum Thema aufgeklärt. Es existiert in Schweden seit rund 20 Jahren und gilt mittlerweile etwa auch in Frankreich, Israel und Irland. Das Europäische Parlament hatte jüngst seinen Mitgliedsländern empfohlen, das Nordische Modell einzuführen. Und auch die OSZE fordert von der Bundesregierung, mit Bezug auf Prostitution mehr in Sachen Menschenhandel zu unternehmen.

Berliner Verrichtungsboxen

Auf dem Berliner Straßenstrich verkaufen die Frauen sexuelle Dienstleistungen für besonders wenig Geld. Manche steigen zu den Männern ins Auto, andere nutzen die sogenannten Verrichtungsboxen, die der Senat hier aufgestellt hat: Freiflächen gibt es hier kaum mehr, es sind in den letzten Jahren viele Neubauten entstanden. Etwa vier Quadratmeter ist der Holzkasten groß; nur durch ein Oberlicht dringt ein wenig Licht herein. Es stinkt, Feuchtpapier liegt auf dem Boden, daneben ein Kondom. Auch eine Toilette ist drin – damit löse man zwei Probleme auf einmal, hieß es damals von verantwortlicher Seite.

Gerhard Schönborn kennt sich aus im Kiez, er arbeitet im Beratungscafe des christlichen Vereins „Neustart“ als Ausstiegshelfer. Hier können die Frauen, die in der Umgebung auf den Strich gehen, zur Ruhe kommen, Kaffee trinken, reden. „Viele sind einfach total übermüdet. Sie legen sich auf die Sofas und schlafen“, sagt Schönborn. Es gibt Kleidung zum Wechseln, Hygieneartikel, Kondome.

Schönborn ist Anfang 60 und seit mehr als 15 Jahren bei Neustart tätig. „Die Verelendung und Verzweiflung der Frauen im Kiez ist seitdem gewachsen.“ Er weiß, dass die Frauen „auf Messers Schneide“ leben. „Entweder sie sind drogenabhängig und prostituieren sich, um Geld für die Drogen zu verdienen. Oder sie prostituieren sich und nehmen dann Drogen, um die Situation besser zu ertragen“, sagt er. Manche sterben auch durch den Drogenkonsum. „Ich weiß nie, ob ich die nochmal wiedersehe.“

Die allermeisten kommen aus Osteuropa, viele sind Roma, sprechen kaum Deutsch. „Sie sind schon in ihren Heimatländern die ärmsten der Armen“, sagt Schönborn. Er stellt klar: „Keine Frau sitzt in Bulgarien auf dem Land und träumt von selbstbestimmter Sexarbeit in Deutschland.“ Viele würden nach Deutschland gebracht, ohne so richtig zu wissen, was sie hier erwartet, manchmal auch von ihren Familien geschickt. Oft gehe es ums Geld verdienen, das dann direkt an die Familie in die Heimatländer überwiesen wird. Schönborn erzählt von der Transferbank um die Ecke, die auf Rumänisch und Bulgarisch die jeweiligen Kurse in Leuchtschrift präsentiert.

Viele Frauen kennen ihre Rechte nicht

„Viele Frauen, die in Deutschland als Prostituierte arbeiten, sind arm, haben wenig Bildung und sind bei uns völlig fremd. Selbst wenn sie aussteigen wollten: Sie wissen oft nicht, dass sie sich hier in einem Rechtsstaat befinden, der ihnen helfen könnte, wenn sie sich an ihn wenden würden“, sagt Sozialethikerin Elke Mack von der Uni Erfurt. „Man arbeitet mit dem Nichtwissen und der Angst der Betroffenen.“

Mack hat gemeinsam mit einem Verfassungsjuristen kürzlich die Studie „Sexkauf“ herausgegeben. Diese kommt zu dem Schluss, dass die deutschen Regelungen für das Prostitutionsgewerbe nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind – die Würde des Menschen könne mit der Legalisierung der Prostitution 2002 und trotz ihrer Regulierung 2017 in keiner Weise garantiert werden. „Hier geht es nicht um Moral. Hier geht es um das Grundrecht auf Würde“, sagt Mack. Frauen würden mit der derzeitigen Gesetzgebung zu Objekten degradiert. „10 bis 20 Freier täglich – das hält kein Körper aus.“

Frauen tragen Schäden davon

Die Auswertung von Freierforen im Internet habe etwa ergeben, dass viele „Freude an der Gewalt und der Erniedrigung von Frauen haben“, so Mack. Viele Frauen hätten als Folge ihrer Tätigkeit „geschädigte Organe, sind zum Beispiel inkontinent“. Die allermeisten litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

Das bestätigt auch Traumatherapeutin Ingeborg Kraus aus Karlsruhe. Sie hat etwa 30 Prostituierte therapiert – und auch Soldaten, die im Bosnienkrieg waren, behandelt. Sie sagt: „Prostitution ist genauso traumatisch wie in den Krieg zu ziehen.“ Viele ehemalige prostituierte Frauen hätten auch ihr Selbstwertgefühl komplett verloren. So wie sie in der Prostitution behandelt wurden, bleibe als Gefühl verankert: „Manche sagen, ich bin ein Stück Sche*ße.“

Kraus erklärt auch, wie die Frauen überhaupt „arbeitsfähig“ sein können: Die körperliche Nähe völlig fremder Personen sei nur zu ertragen, wenn sie sich dissoziierten. „Das heißt: Der Geruchssinn wird abgeschaltet, der Empfindungssinn wird abgeschaltet, der Kopf wird ausgeschaltet. Man kann seinen Körper nicht fremden Männern zur Verfügung stellen, wenn alle Empfindungen da sind“, erklärt Kraus. „Die natürlichen Reaktionen, wenn einem ein fremder Mann sehr nahe kommt, sind: Vorsicht, Angst, Ekel und Scham.“

Experte: Prostitution ist nicht freiwillig

Dabei müssten sie alles klaglos hinnehmen. „Wenn sie nicht lächeln, kriegen sie eins in die Fresse gehauen“, sagt Kraus. „Zu sagen: Prostitution ist freiwillig und verursacht keine Schäden, gehört für mich in die gleiche Kategorie wie zu sagen: ‚Es gibt keinen Klimawandel‘.“

Zudem sei die Signalwirkung in die Gesellschaft hinein durch die liberale Gesetzgebung verheerend. „Jedes legale Angebot schafft sich seine Nachfrage“, sagt auch Sozialethikerin Elke Mack. Abiturfeiern, Geburtstagsfeiern fänden in Bordellen statt als sei das ganz normal. „Männer denken, sie haben ein Recht, sich Frauen zum Sex zu kaufen.“

Kein Grenzen

Dabei gebe es keine Grenze, erzählt Schönborn. „Die Frauen müssen für 10, 20 Euro alles machen – und sie tun es auch, weil sie das Geld brauchen“, sagt er. „Im Ausland wird dafür geworben, dass in Deutschland ‚einfach alles‘ möglich ist.“ So sei einmal in einem Ranking der Berliner Taxiunternehmen die Fahrt vom damaligen Flughafen Tegel zum Großbordell Artemis in Berlin-Halensee eine der am meisten gefahrenen Taxistrecken gewesen.

Der Berater wünscht sich für die Frauen ein besseres Leben – vor allem mehr Ausstiegshilfen. Als er eine der Prostituierten einmal nach den guten Tagen ihres Lebens gefragt habe, habe diese gesagt: „Die schönste Zeit war im Knast.“ Hier hatte sie etwas zu essen, einen sicheren Schlafplatz. „Wenn das die schönste Zeit war, dann weiß man, was sie für ein Leben auf der Straße hatte“, sagt Schönborn.

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