Köln (KNA)Was für ein Mensch war meine Mutter? Was hat sie erlebt? Welche Erfahrungen haben sie geprägt? Und welchen Rat würde sie mir gerade geben? Wer als Kind ein Elternteil verliert, wird sich im Laufe seines Lebens gewiss die eine oder andere Frage dieser Art stellen.
Als Jule Weber* die Diagnose Brustkrebs bekommt, ist sie mit ihrer zweiten Tochter schwanger; ihre erste ist da gerade einmal zwei Jahre alt. Um ihren Töchtern Antworten zu geben, hat die heute 32-Jährige ihnen ein Hörbuch aufgenommen. Es hat 19 Kapitel, die Titel tragen wie „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten“ oder „Der Sommer meines Lebens“. Einige dauern vier Minuten, andere eine halbe Stunde. Jedes Kapitel ist mit passender Musik unterlegt. Mal ist „Nothing Else Matters“ von Metallica zu hören, mal das Intro von Pippi Langstrumpf. Es ist ein individuelles und sehr aufwendig ausgestaltetes Klangerlebnis.
Weber hat an dem Projekt Familienhörbuch teilgenommen, das sich an Menschen wie sie richtet: Lebensbedrohlich erkrankte Mütter und Väter minderjähriger Kinder, die diese aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bis ins Erwachsenenalter begleiten können.
Das Pilotprojekt hat vor sechs Jahren die Hörfunkjournalistin Judith Grümmer gestartet, die selber Mutter von drei Kindern ist und sich journalistisch früh auf Palliativmedizin spezialisiert hatte. Weil das Projekt so gut angenommen wurde, gründete sie zwei Jahre später ein gemeinnütziges Unternehmen, das mittlerweile aufgrund der hohen Nachfrage enorm gewachsen ist: Über 60 freiberufliche wie hauptamtliche Mitarbeitende sowie 20 Ehrenamtliche sind heute für das Familienhörbuch tätig. Die aufwendige Produktion eines Hörbuchs kostet 5.000 bis 6.000 Euro – das Projekt ist einzig und allein aus Spenden finanziert.
Stimme sei so einzigartig wie Fingerabdruck
Seit Beginn wird es vom Tumorzentrum Heidelberg wissenschaftlich begleitet. Dort wird auch der positive Effekt evaluiert, den es auf Menschen in einer schweren Lebenssituation hat, etwas Selbstbestimmtes tun zu können. Auf der Homepage des Projekts heißt es seitens der Gründerin: „Insbesondere die mütterliche Stimme ist das erste, was ein ungeborenes Kind wahrnimmt.“ Die menschliche Stimme sei so einzigartig wie ein Fingerabdruck – aber auch das erste, das Hinterbliebene vergessen oder sich nicht mehr vergegenwärtigen könnten, wenn ein geliebter Mensch verstorben sei.
Über 350 erkrankte Personen haben inzwischen teilgenommen; jedoch ist nicht immer ein fertiges Hörbuch entstanden, wenn sie vor Abschluss verstorben sind. „Aber wir wissen, dass es mittlerweile 520 Kinder sind, die mit dem Familienhörbuch aufwachsen“, erklärt Carmen Dreyer vom Projekt. „Das ist die schönere Zahl, sag ich immer.“
Intime Gesprächssituation
Als sogenannte Audiobiografin hat Dreyer unter anderem Webers Hörbuch betreut. „Man kann sich das vorstellen wie eine intime Gesprächssituation zwischen der Person, die sterben wird, und der Person, die sie zu ihrem Leben befragt und ihr zuhört“, erklärt die 44-Jährige. In den meisten Fällen hätten Teilnehmende – so wie Weber – eine fortgeschrittene Krebserkrankung.
Die Audiobiografinnen und -biografen kommen aber nicht aus dem Gesundheitsbereich, sondern in der Regel aus dem Journalismus. Eine bewusste Entscheidung, so Dreyer – denn es gehe eben nicht um die Krankheit, sondern um Lebensfragen. Mehrere Monate werden sie für die Aufgabe fortgebildet. „Es ist wichtig, dass es jemand Fremdes ist. Wie bei einem sympathischen Gesprächspartner im Zug, dem man viel freier sein Leben anvertraut. Und danach wieder getrennte Wege geht.“
Aufnahme an drei Tagen
So ergeht es auch Weber. Einer außenstehenden Person aus ihrem Leben zu erzählen, sei ihr leichter gefallen. Nach mehreren Operationen hatte sich ihr Gesundheitszustand zwar verbessert. Aber weg ist der Krebs nicht. Kurz vor Weihnachten habe sie sich gefragt: „Wie viele solcher Feste habe ich noch mit meinen Kindern? Und was hinterlasse ich ihnen, wenn alles plötzlich ganz schnell geht?“ Sie ist froh, auf Instagram das Projekt entdeckt zu haben.
Drei aufeinanderfolgende Tage verbringen Weber und Dreyer mit den Aufnahmen des Hörbuchs. Sie treffen sich dazu in einem gemütlichen Hotelzimmer – neutrale Orte werden für die Aufnahmen bevorzugt, sofern der Gesundheitszustand der Teilnehmenden es zulässt. Vorab hat sich die junge Mutter mit den bunten Haaren einige Stichpunkte notiert, was sie ihren Kindern vermitteln möchte. Vor Ort habe sie dann einfach drauflos geredet. „Man erzählt, was einem im Leben wichtig ist. Man steht vor diesem Mikrofon und erzählt einfach, dann kommen ein paar Tränen – und man erzählt weiter.“
Wichtige Botschaft
Sie spricht von wichtigen Abschnitten in ihrem Leben, von Dingen, die sie geprägt haben: ihrem Schulabschluss, dem Vereinsleben als Rettungsschwimmerin oder von der Zeit, als sie 17 war – ihrem besten Lebensjahr, wie sie sagt. Doch es geht auch um die Zukunft ihrer Kinder; was sie ihnen wünscht, welche Lebensweisen sie ihnen mitgeben will. Ihre wichtigste Botschaft: „Es macht nichts, wenn ihr etwas nicht schafft. Ihr müsst einfach immer wieder aufstehen.“ Sie spricht frei, sortieren tut währenddessen Dreyer für die spätere Bearbeitung.
Oft sagten Teilnehmende am ersten Tag, sie wüssten nicht, was sie drei Tage lang erzählen sollten, schildert Dreyer – so spannend sei ihr Leben gar nicht gewesen. Doch im Laufe einer Aufnahme ploppten zuverlässig Erinnerungen hoch, die die Erkrankten über Jahre nicht auf dem Schirm gehabt hätten. „Am letzten Tag sitzen wir auf dem Gipfel, schauen über die abgeernteten Felder und sind total überrascht, was da für eine Fülle ist.“ Dreyer liebt die Arbeit, weil sie fernab jeder Oberflächlichkeit sei. Weder für ihre Teamkollegen noch für Projektteilnehmende sei relevant, wer das größere Auto oder das teuerste Haus habe.
Kleine, aussagekräftige Details
Am meisten Freude hat Weber die Aufnahme eines Kapitels mit 100 Fakten über sie selbst gemacht: In flottem Tempo zählt sie zum Beispiel auf, wie groß sie ist, welche Schuhgröße sie hat, dass sie abgepackte Wurst, Volksmusik und Schlager hasst und welche Bands sie liebt. Dass sie nicht leise niesen kann, ihren bayerischen Dialekt mag und kein Hochdeutsch kann. Eingeleitet wird das lustige Kapitel mit Zirkusmusik. Es ist leicht sich vorzustellen, wie ihre Töchter eines Tages schmunzeln werden über diese kleinen, aussagekräftigen Details über ihre Mutter. Sie zeichnen ein alltagsnahes Bild einer lebensfrohen Person.
Bevor es das Hörbuch gab, hat Weber vor jeder Untersuchung gezittert. „Aber seitdem gehe ich da ruhiger rein“, erklärt sie. Denn sie weiß: Sollte sich der Krebs wieder ausgebreitet haben und alles ganz schnell gehen, gibt es da etwas, das sie ihrem Mann und ihren Mädchen hinterlässt.