Berlin (KNA)Der Versuch, unliebsame Meinungen zu unterdrücken, ist laut dem Philosophen Julian Nida-Rümelin keine neue Entwicklung, sondern zieht sich durch die gesamte Kulturgeschichte. „Geschätzte 99 Prozent der antiken Literatur sind im Zuge der Christianisierung vernichtet worden. Man kann sagen: Cancel Culture ist der Normalfall, Demokratie nicht“, sagte der Vize-Vorsitzende des Deutschen Ethikrates dem Berliner „Tagesspiegel“ (Freitag).
Die Vorstellung, dass es Toleranz brauche, um Differenzen, auch unterschiedliche religiöse Überzeugungen und Lebensformen, auszuhalten, sei seiner Beobachtung nach vor ein paar Jahrzehnten noch selbstverständlicher gewesen zu sein, sagte Nida-Rümelin. Wichtig sei, den Begriff aus der „ideologisierten politischen Kampfzone“ herauszuholen. Cancel Culture gebe es von links wie von rechts, auch in der Mitte.
Cancel Culture gegen Aufklärung
Nida-Rümelin erläuterte: „Es gehört zur Freiheit und Demokratie, dass die Leute verschiedene politische Auffassungen haben dürfen, ohne fürchten zu müssen, dass das durchschlägt auf ihr Berufs- oder Sozialleben. Cancel Culture bedroht genau das und verträgt sich nicht mit unserem System, das auf Prämissen beruht, die in Humanismus und Aufklärung wurzeln“, erläuterte der Philosoph. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Cancel Culture – Ende der Aufklärung?“
Zugleich betonte Nida-Rümelin, dass es auch Grenzen des Dialogs gebe: „Es hat für mich und für die meisten Demokratinnen und Demokraten überhaupt keinen Sinn, politisch mit Neonazis zu diskutieren, weil die fundamentalsten Gemeinsamkeiten in der Demokratie, also gleiche menschliche Würde zum Beispiel, von ihnen nicht akzeptiert werden.“ Er halte es für richtig, dass in Deutschland die Holocaustleugnung ein Straftatbestand ist. „Wenn jemand den Boden der Menschenrechte verlässt, dann ist er als Gesprächspartner disqualifiziert.“