Wenn Kinder in weltanschaulichen Filterblasen aufwachsen

VonC. Peters

19. September 2023

Berlin/Freiburg (KNA)“Ich hatte solch einen Wissensdurst. Doch weltliche Bücher, Wissenschaft wurden nicht gerne gesehen“, berichtet Manny, 29 Jahre alt.

Und die gleichaltrige Leah sagt: „Alle Hoffnung lag auf mir. Aber dann fiel ich in Ungnade. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb. Auf einmal träumte die Leiterin, dass sich ein dämonischer Anteil in mir inkarniert habe und sie durch mich getäuscht worden sei.“

Beide jungen Erwachsenen sind in extremen weltanschaulichen Gruppierungen aufgewachsen und konnten sich eines Tages daraus lösen. Es sind „Filterblasenkinder“, wie Pädagogin Sarah Pohl sie nennt. Über deren Leben und Aufwachsen zwischen den Welten hat die Familienberaterin, die die Zentrale Beratungsstelle für weltanschauliche Fragen in Baden-Württemberg leitet, zusammen mit der Theologin Mirijam Wiedemann jetzt ein Buch geschrieben.

Esoterik, extreme christliche oder muslimische Gruppen

Darin schildern sie eine Entwicklung, die laut Pohl vor allem seit der Corona-Pandemie stark zugenommen habe. Ob Esoterik, extreme christliche oder muslimische Gruppierungen: Mittlerweile hätten rund 30 Prozent der Bevölkerung „eine Affinität“ zu einem Leben im Paralleluniversum, sagt sie mit Verweis auf Studien sowie ihre eigene Beratertätigkeit.

Wie viele sich davon radikalisiert hätten, sei seit der Corona-Pandemie noch nicht quantifiziert. Fest stehe aber: Immer mehr Menschen sind gefährdet, sich einer solchen Gruppierung anzuschließen.

Weltanschauliche Filterblasen entstehen, „wenn Gruppierungen sich abwenden von gesamtgesellschaftlichen Werten, Feindbilder gepflegt werden und eine wertschätzende Kommunikation zwischen den Welten fehlt“. Dabei nehme auch die Rigidität zu, mit der die eigene Überzeugung gelebt werde.

Diese Menschen seien dann nur noch schwer erreichbar, so Pohl. Auch das Gefährdungspotenzial, das von dubiosen religiösen oder weltanschaulichen Angeboten ausgehe, sei „anhaltend hoch, wenn es nicht sogar steigt“.

Corona verstärkte die Lage

Nicht zuletzt durch Corona sei deutlich geworden, „wie stark religiöse oder weltanschauliche radikale Haltungen politischen begegnen oder sich gar mit diesen vereinen“, sagt Pohl – wie etwa bei Impfgegnern, die auf AfD-Demos gehen.

Bei den Filterblasen, in die sich die Menschen zurückzögen, handele es sich anders als noch vor 30 Jahren, um eine „sehr fluide heterogene Mischung. Früher nannte man das Sekten. Heute gibt es viele verschiedene Gruppierungen und vieles, was neu entsteht.“

So würden manche Kinder in extremen esoterischen Elternhäusern groß – wie etwa der 26-jährige Tom. „Ich habe eine Riesenwut auf diese ganze Esoterik. Meine Mutter war immer mit sich selbst beschäftigt. (…) Eine Zeit lang waren es Engelseminare, da hingen überall Engelbilder in der Wohnung, dann war sie auf dem Auratrip, dann war es Feng Shui, dann war sie in einem Tantrakurs. Und je nach esoterischem Trip, auf dem sie gerade war, mussten wir uns einen anderen Blödsinn anhören.“

Abschottung und strenge Regeln

Andere „Filterblasenkinder“ wachsen in extremen muslimischen Gruppierungen, evangelikalen oder auch extremen katholischen Gruppierungen auf, etwa „aus dem Erneuerungsbereich“, sagt Pohl. Hier werde mit „strengen Gottesbildern gearbeitet oder verkündet, dass bald die Welt untergeht“ – und sich deshalb Bildung sowieso nicht mehr lohne. „Alles war reglementiert, es gab nur Verbote“, erzählt etwa die 27-jährige Clara.

Auch wenn sich konkrete ideologische Aspekte völlig unterschieden, gebe es große formale Ähnlichkeiten, so die Autorinnen. Abschottung, strenge Regeln und hierarchische Strukturen gehörten etwa immer dazu.

Pohl und Wiedemann, die die Geschäftsstelle für gefährliche religiös-weltanschauliche Angebote am baden-württembergischen Kultusministerium leitet, wollen für das Aufwachsen zwischen zwei Welten sensibilisieren: Für viele solcher Kinder sind Ausgrenzung in der Klasse und in der Gesellschaft die Folge – sei es, weil man immer im Rock in die Schule muss, sei es, weil man nicht am Schwimmunterricht teilnehmen darf.

Es sei wichtig, dieser Spannung, die die Kinder aushalten müssen, nicht mit Vorwürfen zu begegnen, sagt Pohl. „Nicht an den Kindern ziehen – weder in die eine noch in die andere Richtung. Es ist sehr schwierig, sich für eine andere Weltanschauung zu entscheiden – wenn das eine Entscheidung gegen die eigenen Eltern ist.“

Tipps für den Zugang zu Angehörigen von extremen Gruppierungen

Wenn Angehörige, Schüler oder Freunde sich einer extremen weltanschaulichen Gruppierung angeschlossen haben, empfiehlt Pädagogin Pohl, den Radikalisierten „nicht nur als solchen sehen, sondern auch den Menschen dahinter. Verwechseln Sie einen Menschen nicht mit seiner Meinung.“ Vor allem Dialog sei wichtig und eine Begegnung auf Augenhöhe. Dabei hilft laut Pohl folgendes Verhalten:

Was man nicht tun sollte:

– Vorwürfe

– Druck – dies erzeugt meist Gegendruck

– in die Ecke drängen

– moralische Belehrungen

Was hilft:

– Interesse am Einzelnen

– Blick auf Ressourcen

– Gespräche suchen

– Augenhöhe und Respekt anbieten

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