Das atomare Säbelrasseln geht weiter. Zwar beschränkt sich Russland beim Angriffskrieg auf die Ukraine weiter auf konventionelle Waffensysteme, doch die Rhetorik gewinnt zunehmend an Schärfe.
Dmitri Medwedew, ehemaliger Präsident Russlands und Putin-Intimus, nutzte den gestrigen Tag der russischen Marine dazu, erneut mit einem Nuklearkrieg zu drohen. Auf Telegram schrieb er, wenn die Ukraine mit Unterstützung der NATO erfolgreich wäre und Teile Russlands erobern würde, sei man gezwungen Atomwaffen einzusetzen. „Es gäbe einfach keine andere Möglichkeit,“ so Medwedew.
Er berief sich auf einen Erlass des russischen Präsidenten vom 02.06.2020. Darin heißt es, dass die staatliche Politik der nuklearen Abschreckung defensiv sei und die Russische Föderation Kernwaffen ausschließlich als Abschreckungsmittel betrachte. Atomwaffen sollen zum Einsatz kommen, wenn Russlands Existenz bedroht werde. Experten gehen davon aus, dass auch die annektierten und besetzten Gebiete der Ukraine als „russisch“ angesehen werden.
Vor kurzem hatte Medwedew bereits in einem Artikel für die russische Zeitung Rossijskaja Gaseta und auf Telegram gewarnt, dass „eine nukleare Apokalypse nicht nur möglich, sondern auch sehr wahrscheinlich“ sei.
Auch der Anführer der Söldner-Armee Wagner, Jewgeni Prigoschin, hatte vor einem Einsatz von Nuklearwaffen gewarnt. Ihm „graue davor“, dass Russland eine kleine Atombombe abwerfen könnte, um Stärke zu demonstrieren.
Zahlreiche Beobachter und Experten sind angesichts solcher Aussagen in Sorge.
Jana Baldus, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, äußerte in einem Interview mit n-tv, dass die Annexion eines Gebiets einen möglichen Atomwaffeneinsatz legitimieren könnte. Ihrer Ansicht nach stelle die Gegenoffensive der Ukraine in den annektierten Gebieten keine direkte Bedrohung für die Existenz Russlands dar, werde jedoch aus russischer Sicht als eine Bedrohung der „territorialen Integrität“ Russlands angesehen.
Laut Rolf Mowatt-Larssen, einem ehemaligen Nuklear-Anti-Terrorismus-Offizier der CIA, besteht tatsächlich die Möglichkeit eines Einsatzes taktischer Nuklearwaffen durch Putin. Der Experte äußerte die Sorge, dass Putin zu dem Schluss kommen könne, seine Armee werde die von ihm als russisch betrachteten Gebiete nicht mehr halten können. „In diesem Fall denke ich, dass Wladimir Putin taktische Nuklearwaffen einsetzen wird“, sagte er bei einer Veranstaltung der Harvard Kennedy School mit Sitz in Cambridge, USA, im Februar.
Der Ukraine-Konflikt habe für beide Länder verheerende Auswirkungen gehabt, insbesondere für Russland. Strategisch betrachtet habe Russland mehr Schaden erlitten als möglicherweise auf dem Schlachtfeld gewonnen werden kann, selbst wenn sie in gewissem Maße erfolgreich seien, betont der Experte.
Putin habe vor allem zwei Dinge befürchtet: dass die Ukraine sich weiter an die EU annähere und dass die NATO stärker und einheitlicher werde. Beide Szenarien hätten sich bewahrheitet, so Mowatt-Larssen.
Angesichts der möglichen Eskalation und des potenziellen Einsatzes taktischer Nuklearwaffen durch Putin appellierte Mowatt-Larssen an die USA, über eine mögliche Abschreckung von Russland nachzudenken und Reaktionen vorzubereiten, wenn Russland diese Waffen einsetze oder eine andere katastrophale Situation verursache.
Ähnlicher Meinung ist auch Dr. Rod Thornton, Sicherheitsexperte am King’s College London. In einem Interview mit Forbes sagte er, Putin stehe an vielen Fronten unter Druck. „Je verzweifelter Putin wird und je mehr er in die Defensive gerät, desto wahrscheinlicher wird es, dass eine Atomwaffe eingesetzt wird“, so Thornton gegenüber Forbes. Die Entscheidung, eine Atomwaffe einzusetzen, könne Putin jedoch neue Probleme im Inland bereiten und möglicherweise Widerstand seitens des Militärs oder anderer wichtiger Persönlichkeiten hervorrufen, die eine Eskalation vermeiden möchten.
Im Mai hatte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko angekündigt, dass russische Atomsprengköpfe auf dem Weg in sein Land seien. Wladimir Putin und er hatten eine Stationierung von Nuklearwaffen in Belarus vereinbart.
Die deutsche Wissenschaftlerin Lydia Wachs sagte dem Tagesspiegel angesichts der geplanten Stationierung, dass diese Aktion jedoch keine direkten Auswirkungen auf die bestehende Bedrohungslage habe. Bereits jetzt verfüge Russland über eine Vielzahl von Waffen- und Trägersystemen, die in der Lage seien, Ziele in ganz Europa zu bedrohen, so Wachs. Dennoch hält die Expertin die Wahrscheinlichkeit eines russischen Einsatzes von Nuklearwaffen derzeit für äußerst gering.
Im Kalten Krieg waren Atomwaffen politische Instrumente, um konventionelle Konflikte zu verhindern, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview mit t-online.de. Doch Putin drohe nun mit nuklearer Eskalation, um den Einsatz seiner konventionellen Waffen zu optimieren und den Westen von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Er habe die russische Nuklearstrategie damit dramatisch verändert, so der Experte.
Doch auch ohne Atomwaffen könnten nukleare Aktivitäten militärisch eingesetzt werden. Der ukrainische Militär-Nachrichtendienst hatte wiederholt davor gewarnt, dass russischen Streitkräfte angeblich planen, einen Fehlalarm im russisch kontrollierten Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine auszulösen. Russland wolle dann ein Austreten radioaktiver Substanzen verkünden und die Ukraine dafür verantwortlich machen. Evakuierungen und ein Waffenstillstand könnten die Folgen sein, wird spekuliert.
Der ukrainische Top-General Tarnawskyj hält den Einsatz von Nuklearwaffen jedoch vorerst für unwahrscheinlich. In einem Interview mit dem US-Sender ABC News meinte er: „Wenn ich sagen würde, dass ich [vor einem Atomangriff] besorgt bin, würde ich nicht die Wahrheit sagen“. Tarnawskyj sagte weiter: „Natürlich müssen wir berücksichtigen, dass Nuklearwaffen bereits in Belarus sind oder dort stationiert werden. Das müssen wir bei der Aufstellung unserer zukünftigen Pläne und Prognosen einbeziehen. Aber es ängstigt mich überhaupt nicht.“
„Vladimir Putin 17-11-2021 (cropped)“ by The Presidential Press and Information Office is licensed under CC BY 4.0.