Moskau (dpa) – Über Monate hinweg legte sich der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, wegen des chaotischen Kriegsverlaufs in der Ukraine mit der Militärführung in Moskau an. Immer wieder warf er dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab der Armee vor, Präsident Wladimir Putin zu belügen.
Mit einem bewaffneten Aufstand seiner mit Panzern und anderen schweren Waffen voll ausgestatten Armee forderte der 62-Jährige nun aber auch Putin selbst heraus – bis er am Samstagabend dann plötzlich das Ende seines Marsches auf Moskau bekanntgab.
Prigoschin galt als Putins Vertrauter
Bis zu diesem Wochenende wurde Prigoschin zu Putins langjährigen Vertrauten gezählt. Wie der Kremlchef kommt er aus St. Petersburg. Über das Privatleben des Familienvaters ist wenig bekannt. Aber immer wieder inszeniert er sich selbst als Beschützer mit sozialer Ader. So unterhält er Rehazentren für Kriegsversehrte. In Moskau will er auf einem seiner Grundstücke im Luxusviertel Rubljowka ein Zentrum zur psychologischen Betreuung von Veteranen bauen lassen.
Seine Popularitätswerte schnellten in die Höhe – auch, weil er mit seinem Kanal beim Nachrichtendienst Telegram Hunderttausende erreichte. Viele hielten die Aussagen, die an die russische Opposition erinnerten, für ehrlich – ein Ventil in Zeiten des Kriegs. Das schürte auch Spekulationen um politische Ambitionen des Wagner-Chefs. Er wies solche Absichten stets zurück.
Prigoschin genießt vielmehr den Ruf, mit seinem Firmenimperium Concord und anderen geschäftlichen Aktivitäten auf maximalen Gewinn aus zu sein. Dass er dabei extrem machtbewusst vorgeht, bezweifelt niemand. Seinen Einfluss nutzte er besonders, um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow unter Druck zu setzen, den Einsatz im Krieg zu erhöhen. Er warf ihnen vor, die Truppen nicht ordentlich zu führen.
Niemand sonst in Russland traute sich solche Kritik, für die einfache Bürger zu hohen Haftstrafen verurteilt werden. Es gehe ihm darum, dass die Armee mit Würde und Stolz ihre Aufgaben erfüllen könne – und nicht in einem System von «Speichelleckerei, Kriecherei und Verantwortungslosigkeit». Prigoschin kritisierte zudem, dass die Staatsmedien die Erfolge Wagners schmälerten oder sogar verschwiegen. Das Wort Wagner werde in den Medien «sorgfältig ausradiert» – wie Genitalien in einem Film übers Saunieren.
Bekannt ist Prigoschin aber auch als skrupelloser Unternehmer mit krimineller Vergangenheit. Er und Putin kennen sich lange. Als der heutige Präsident noch in der St. Petersburger Stadtverwaltung arbeitete, soll er in Prigoschins Restaurant eingekehrt sein. Deshalb ist der Russe, der mehrer Jahre wegen Raubs in Haft saß, auch als «Putins Koch» bekannt.
Der Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf soll sich mit seiner auf Desinformation spezialisierten Internet-Trollfabrik 2020 auch in die US-Präsidentenwahl eingemischt haben. Deshalb haben ihn die Vereinigten Staaten zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Die Wagner-Truppen gelten im Westen als «Terrororganisation», verantwortlich für Kriegsverbrechen in vielen Ländern.
Existenz der Truppe jahrelang bestritten
Im September – nach einem halben Jahr Krieg in der Ukraine – räumte Prigoschin erstmals ein, die Söldnertruppe schon 2014 für den Einsatz auf russischer Seite im ukrainischen Donbass gebildet zu haben. Zuvor hatte Prigoschin seine Verbindung zu den Söldnern nie eindeutig bekannt. Auch Moskau bestritt die Existenz jahrelang vehement.
Als zweiter Gründer ist der ehemalige Geheimdienstler Dmitri Utkin bekannt, der offizielle Wagner-Kommandeur. Ihm wird eine Vorliebe für den deutschen Komponisten Richard Wagner nachgesagt – daher der Name der Truppe. Im Ukraine-Krieg spielte sie bislang eine zentrale Rolle: Als Prigoschins größter militärischer Erfolg gilt die blutige Eroberung der ostukrainischen Stadt Bachmut. Seine Männer sollen aber auch an dem Massaker in Butscha nahe Kiew beteiligt gewesen sein.
Wagner-Kämpfer waren in Syrien, anderen arabischen Ländern sowie in Afrika und Lateinamerika im Einsatz, und sind es auch heute noch. Dort liegt eine von vielen Geldquellen: Wagner bietet skrupelloses Personal und Dienstleistungen. Im Gegenzug gibt es Geld und Rohstoffe wie Gold und Diamanten. In Russland verdient Prigoschin Geld mit der Essensversorgung beim Militär, aber auch in Schulen und Kindergärten.
Rekrutierung von Häftlingen
Die Wagner-Gruppe rekrutiert ihre Mitglieder unter Freiwilligen – im Ukraine-Krieg nicht zuletzt unter Häftlingen. Prigoschin lockte Schwerverbrecher mit dem Versprechen, nach halbjährigem Kriegsdienst die Begnadigungsurkunde zu erhalten. 32.000 Ex-Gefangene seien so in Freiheit gekommen. Etwa 10.000 frühere Häftlinge wurden nach Prigoschins Angaben allerdings allein im Kampf um Bachmut getötet. Bei Fluchtversuchen soll die Hinrichtung drohen. Für Entsetzen sorgte ein Video, das zeigen soll, wie ein abtrünniger Wagner-Mann mit einem Vorschlaghammer getötet wird.
Nun sieht sich Prigoschin selbst von Putin als «Verräter» an den Pranger gestellt. Belarus gewährte ihm Zuflucht. Kommentatoren meinen allerdings, dass der Wagner-Chef seine Kritik mit dem Leben bezahlen könnte, egal wo. Wie andere Kritiker Putins zuvor.