Moskau (dpa) – Die Nuklearmacht Russland wird von einem beispiellosen Machtkampf erschüttert. Der Konflikt zwischen Präsident Wladimir Putin und dem Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, eskalierte zu einem bewaffneten Aufstand.
Prigoschins Einheiten brachten Militäreinrichtungen im Süden des Landes, nahe der Grenze zur Ukraine, unter ihre Kontrolle. Eine bewaffnete Wagner-Kolonne brach Richtung Moskau auf und machte Fortschritte – wurde am Samstagabend aber nach Angaben Prigoschins wieder zurück in ihre Lager beordert, um Blutvergießen zu vermeiden.
«Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück», sagte er in einer von seinem Pressedienst auf Telegram veröffentlichten Sprachnachricht. Bislang sei «nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer» vergossen worden, sagte Prigoschin. «Jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte.» Deshalb sei es Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen. Zuvor hatte der Pressedienst des belarussischen Machthabers, Alexander Lukaschenko, mitgeteilt, dass dieser Prigoschin nach Absprache mit Putin überzeugt habe, aufzugeben. Prigoschin erwähnte Lukaschenko in seiner Sprachnachricht nicht ausdrücklich.
Vieles noch unklar
Es war zunächst nicht klar, ob Prigoschin Zugeständnisse gemacht oder in Aussicht gestellt wurden, um den Vormarsch auf Moskau zu stoppen. Ebenso blieb zunächst unklar, ob sich Prigoschins Söldner wieder aus den von ihnen besetzten Militäreinrichtungen in der Millionenstadt Rostow am Don zurückziehen würden. Dort befindet sich das Hauptquartier des russischen Militärbezirks Süd – eine Kommandozentrale für den Krieg gegen die Ukraine. Aus dem Kreml gab es zunächst keine Reaktion zum angekündigten Stopp des Vormarsches.
Der seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Prigoschin und der russischen Armeeführung war in der Nacht zum Samstag eskaliert. Der 62-Jährige beschuldigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Befehl zu einem Angriff auf ein Militärlager der Wagner-Truppe gegeben zu haben. Die Einheit hatte in Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine an der Seite regulärer russischer Truppen gekämpft und eine wichtige Rolle etwa bei der Eroberung der Stadt Bachmut im östlichen Gebiet Donezk gespielt. Allerdings gab es seit Monaten Streit um Kompetenzen und um Munitionsnachschub.
Nach dem angeblichen Angriff auf das Wagner-Lager – den das Verteidigungsministerium prompt dementierte – kündigte Prigoschin einen «Marsch der Gerechtigkeit» an, um die Verantwortlichen in Moskau zu bestrafen. Prigoschins Angaben nach befanden sich die Spitzen seiner Einheiten zuletzt nur noch rund 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt.
Wagner-Gruppe für Russland wichtig
Die mehreren Tausend Wagner-Kämpfer waren für Moskau bislang eine der wichtigen Gruppen im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Prigoschin wirft dem russischen Verteidigungsministerium seit langem falsche Taktik und schlechte Führung vor. Seine Kritik richtete sich bislang vor allem gegen Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow – Putin sparte er aus. Nun hielt er jedoch auch dem Kremlchef vor, sich schwer zu irren. Unklar war zunächst, welche Auswirkungen der innerrussische Konflikt auf den Kriegsverlauf hat.
Prigoschin galt bisher als Vertrauter Putins. Bislang konnte er sich Kritik erlauben, für die andere längst bestraft worden wären. Am Samstagmorgen jedoch bezeichnete Putin seinen Ex-Vertrauten Prigoschin als «Verräter». «Das ist ein Stoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes», sagte Putin. Wer Waffen erhebe und bewaffneten Aufstand organisiere, werde bestraft, sagte er in seiner TV-Ansprache. Die Behörden ermitteln bereits seit Freitagabend gegen den mit Staatsaufträgen reich gewordenen Oligarchen und drohten ihm mit einer Haftstrafe von 12 bis 20 Jahren. Ob die Strafverfahren nach der Ankündigung Prigoschins, seine Truppen zurückzuziehen, eingestellt werden, ist bislang unklar.
Der Söldnerchef warf Putin noch am Mittag vor, die Lage völlig falsch einzuschätzen. «Der Präsident irrt sich schwer», sagte er in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. Die eigene Rolle beschrieb er mit den Worten: «Wir sind Patrioten unserer Heimat.» Prigoschin kündigte an, «Korruption, Lügen und Bürokratie» in Russland zu beenden. Damit forderte der Söldnerchef, der nach eigenen Angaben über etwa 25.000 Kämpfer verfügt, erstmals auch Putin offen heraus. Die russischen Streitkräfte haben etwa 1,5 Millionen Angehörige.
Menschen in Moskau aufgefordert, zu Hause zu bleiben
Vor Prigoschins Ankündigung, den Vormarsch nach Moskau zu stoppen, fordert der Bürgermeister der russischen Hauptstadt, Sergej Sobjanin, die Menschen auf, zu Hause zu bleiben und erklärte den Montag aus Sicherheitsgründen zu einem arbeitsfreien Tag. «In Moskau ist der Anti-Terror-Notstand ausgerufen worden. Die Lage ist schwierig», räumte Sobjanin auf seinem Telegram-Kanal ein. Es gehe um die «Minimierung der Risiken», es könne zu Straßensperrungen kommen.
Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, stellte sich unterdessen an die Seite Putins und kündigte die Entsendung seiner Truppen an, um den Aufstand niederzuschlagen. Tschetschenische Kämpfer sind – wie bis vor kurzem die Wagner-Einheiten – an der Seite der regulären russischen Armee gegen die Ukraine im Einsatz. Der für seinen brutalen Führungsstil bekannte Kadyrow und Prigoschin gelten seit längerem als Kontrahenten.
In der Ukraine wurde die jüngste Entwicklung im Nachbarland genau verfolgt. Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte: «Jeder, der den Weg des Bösen wählt, zerstört sich selbst.» Der bewaffnete Aufstand sei ein klares Zeichen für Putins Schwäche, schrieb Selenskyj beim Kurznachrichtendienst Twitter.
«Lange Zeit bediente sich Russland der Propaganda, um seine Schwäche und die Dummheit seiner Regierung zu verschleiern. Und jetzt ist das Chaos so groß, dass keine Lüge es verbergen kann.» Am Abend legte Selenskyj nach und rief zu Putins Sturz auf. «Je länger dieser Mensch im Kreml ist, um so größer wird die Katastrophe», sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft – diesmal aber auf Russisch und an die Russen gerichtet. Putin sei bereits nicht mehr in Moskau und verstecke sich.
«Putin arbeitet im Kreml»
Das dementierte der Kreml. «Putin arbeitet im Kreml», sagte Sprecher Dmitri Peskow nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Zuvor gab es Gerüchte, Putin könnte in Richtung St. Petersburg aufgebrochen sein.
Die Entwicklung in Russland wurde im Westen aufmerksam verfolgt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ließ sich nach Angaben eines Regierungssprechers «laufend unterrichten». Er beriet sich auch mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem britischen Premier Rishi Sunak. Im Auswärtigen Amt kam ein Krisenstab zusammen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach demnach mit ihren Kollegen aus den anderen G7-Staaten über die Lage.
In der Ukraine tobten die Kämpfe weiter
Nach dem Aufstand sieht der Kreml keinen Einfluss auf den Fortgang des Kriegs gegen die Ukraine. Die Situation wirke sich nicht auf den Verlauf der «militärischen Spezialoperation» gegen die Ukraine aus, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Peskow sagte auch, dass ihm nicht bekannt sei, dass sich die Haltung von Präsident Wladimir Putin gegenüber Verteidigungsminister Sergej Schoigu geändert habe.
In der Ukraine tobten die Kämpfe weiter. Bei einem russischen Raketenangriff auf die Hauptstadt Kiew wurden in der Nacht zum Samstag drei Menschen getötet und elf weitere verletzt, wie die dortige Staatsanwaltschaft mitteilte. Der Angriff mit zahlreichen Opfern war eine der folgenschwersten russischen Attacken auf Kiew in jüngerer Zeit. Kiew wird seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 immer wieder mit Raketen und Drohnen angegriffen.
Im östlichen Donezker Gebiet erzielte die ukrainische Armee nach eigenen Angaben Geländegewinne. «Die Ostgruppierung der Truppen hat heute eine Offensive an mehreren Abschnitten zugleich begonnen», schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar bei Telegram. Dabei seien die russischen Truppen um die Stadt Bachmut zurückgedrängt worden. An anderen Frontabschnitten im Luhansker und Donezker Gebiet seien Angriffe russischer Einheiten abgewehrt worden. Die Angaben der Kriegsparteien lassen sich nicht unabhängig überprüfen.