Berlin (dpa) – Der 35-jährige Willi Göttling war nach Aktenlage der Erste, der wegen des DDR-Volksaufstands vom 17. Juni 1953 standrechtlich erschossen wurde. Am Samstag war der Berliner Familienvater beim Gedenken an Opfer der Niederschlagung auch der Erste, an den feierlich erinnert wurde. Vier Schicksale trugen junge Leute auf dem Friedhof Seestraße im früheren Westberlin vor, bevor Bundeskanzler Olaf Scholz die Geschehnisse von damals würdigte.
«Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR ist eines der wichtigsten und auch stolzesten Ereignisse in der Freiheitsgeschichte unseres Landes», sagte der SPD-Politiker vor den versammelten Spitzen des Staats, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Bundesratspräsident Peter Tschentscher und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth.
In der DDR sei der Volksaufstand ein großes Tabu gewesen, sagte Scholz. «Die Machthaber wollten nicht darüber reden und die Bürgerinnen und Bürger durften nicht darüber reden.» In der Bundesrepublik sei die Erinnerung an den 17. Juni zwar gepflegt worden. Doch habe dieser als tragischer Fehlschlag gegolten. Lange habe die Wahrnehmung geherrscht, die Opfer des Aufstands seien vergeblich gewesen.
«Große Vision von Freiheit und Selbstbestimmung»
«Aber diese Opfer waren nicht vergeblich, das sehen wir heute klarer», sagte der Kanzler. Bei der friedlichen Revolution in der DDR 1989 sei die «große Vision von Freiheit und Selbstbestimmung» verwirklicht worden. Die Demonstrierenden von 1989 hätten sich zwar nicht auf ihre Vorgänger 1953 bezogen, weil sie wenig von ihnen gewusst hätten. Dennoch gebe es «eine direkte Linie» zwischen beiden Ereignissen.
Am 17. Juni 1953 hatten in Ostberlin und an 700 weiteren Orten der DDR rund eine Million Menschen gestreikt und demonstriert. Sie forderten höhere Löhne, niedrigere Preise und mehr Wohlstand, aber auch freie Wahlen und ein Ende der Teilung Deutschlands. Die sowjetische Besatzungsmacht schlug die Proteste gemeinsam mit den DDR-Behörden nieder. Mindestens 55 Menschen wurden getötet, mehr als 10.000 verhaftet.
Am Donnerstag und Freitag hatten der Bundestag und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Mut der damals Beteiligten gewürdigt. Am Samstagmorgen legte Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner bereits einen Kranz am historischen Schauplatz des Aufstands am damaligen Haus der Ministerien nieder, wo heute das Bundesfinanzministerium sitzt.
Dass das Gedenken zum 70. Jahrestag so viel Widerhall findet, freue sie, sagte die Chefin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Anna Kaminsky, der Deutschen Presse-Agentur am Rande der Kranzniederlegung. Doch drang sie darauf, nachhaltiger zu erinnern. Die wichtigen Ereignisse während der deutschen Teilung müssten in den Schulen gelehrt werden, sagte Kaminsky.
Schneider: Thema für die Lehrpläne
Dafür plädierte auch der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider. DDR-Geschichte solle auf den Lehrplänen eine größere Rolle spielen, sagte der SPD-Politiker dem SWR. CDU-Chef Friedrich Merz forderte am Freitagabend auch mehr Beschäftigung der Wissenschaft mit dem Thema. Es gebe bis heute keinen einzigen Lehrstuhl für DDR-Forschung an einer deutschen Universität, kritisierte Merz.
An den 17. Juni wurde am Samstag an vielen Orten erinnert. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck mahnte in Chemnitz, auch heute gelte es überall auf der Welt denen beizustehen, die sich mutig für Freiheit, Demokratie und Recht einsetzen. «Aus unserer Erinnerung an einst erwächst Solidarität jetzt», sagte Gauck.
In Sachsen-Anhalt sprach Landtagspräsident Gunnar Schellenberger von einem Schlüsseldatum. Thüringen erinnerte in Jena an mit einer Gedenktafel an den Arbeiter Alfred Diener, der im Alter von 26 Jahren in der sowjetischen Militärkommandantur Weimar standrechtlich erschossen wurde. In Brandenburg nannte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) den Aufstand ein «Symbol für den Willen der Menschen nach Freiheit». CDU-Landeschef Jan Redmann schlug vor, den 17. Juni zu einem zusätzlichen gesamtdeutschen Feiertag zu machen.
Die Bundesrepublik hatte den 17. Juni noch 1953 zum Feiertag erklärt. Dennoch geriet die Bedeutung des Aufstands lange aus dem Blick. Seit 1990 ist der 3. Oktober der Tag der Deutschen Einheit.